Es ist eine besonders kritische Zeit für die Ukraine: Russland bombardiert immer wieder die kritische Infrastruktur, es kommt zu Stromausfällen, und viele Zivilisten müssen bei Minusgraden ausharren. In dieser kritischen Phase des Kriegs verlässt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) erstmals in zehn Monaten das Land. Er reist nach Washington, in der Hoffnung, sich mehr Unterstützung zu sichern. Der Zeitpunkt ist entscheidend: Der amerikanische Kongress besteht nur noch wenige Tage in dieser Form.
«Dass Selenski die Risiken dieser Reise auf sich nimmt, zeigt, dass er bereit ist, alles zu tun, um der Ukraine die politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Amerikaner zu sichern», sagt James W. Davis (59), Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, zu Blick.
Denn noch hat der amerikanische Präsident Joe Biden (80) relativ viel Handlungsspielraum und kann Selenski zum Beispiel Verteidigungssysteme zusichern. Doch das ändert sich bald. Bidens Ukraine-Politik spaltet die Amerikaner und stösst auf Kritik. Am dritten Januar tritt der neue Kongress zusammen. Nach den Midterms wird das Repräsentantenhaus, eine der beiden Kongresskammern, dann von Republikanern dominiert.
Das macht es für Biden und seine Demokraten unmöglich, eigenständig Gesetze zu beschliessen. Die Folge: «Ein Grossteil der bisher verhaltenen Kritik könnte sich in eine regelrechte Obstruktion Bidens verwandeln», sagt Politologe Marco Steenbergen (59) zu Blick. Dann könnte jede Entscheidung von Biden durch das Repräsentantenhaus blockiert werden.
Republikaner sind Putin wohlgesinnt
«Die Republikaner haben Putin seit Beginn des Kriegs im Grossen und Ganzen recht wohlwollend gegenübergestanden», ordnet Steenbergen die Lage ein. Die Republikaner würden versuchen, Biden jegliche Erfolge zu verwehren – auch in der Ukraine. Dieses Zwists sei sich Selenski bewusst. «Er wird zweifellos versuchen, die neue republikanische Führung auf seine Seite zu bringen und noch mehr Unterstützung aus dem Weissen Haus zu erhalten», ist der Politologe überzeugt.
Neben der strategischen Bedeutung ist ein persönlicher Besuch aber auch ein klares Zeichen. Steenbergen zu Blick: «Selenski traut sich, sein Gesicht öffentlich in der mächtigsten Nation der Welt zu zeigen.»
Das werde auch der amerikanischen Bevölkerung imponieren, weiss Davis. «Die Rede vor dem Kongress wird zur Prime Time im Fernsehen ausgestrahlt», so der USA-Experte. Selenski bekomme so die volle Aufmerksamkeit der Amerikaner. Davis: «So kann er die Bedeutung des Ukraine-Kriegs für die Interessen der Amerikaner darstellen.»
«Zweifellos wird Russland den Besuch verurteilen»
Doch nicht nur Selenski nutzt die Amerika-Reise für seine Politik, auch die Demokraten machen damit Wahlkampf. «Biden will unterstreichen, dass die USA auf der Seite der Ukraine sind und bleiben, auch wenn er darüber nicht allein entscheiden kann», erklärt Davis. Und: «Biden will damit dem amerikanischen Volk als auch Moskau imponieren.» Der amerikanische Präsident signalisiert damit, dass er nicht von seiner Ukraine-Politik abweicht.
Ob der Kreml mit weiteren Eskalationen auf Selenskis Reise reagiert, bleibt abzuwarten. «Zweifellos wird Russland den Besuch verurteilen», ordnet Steenbergen ein. Die Regierung wird Selenskis Besuch als weiteres Indiz darstellen, dass Russland sich im Krieg mit dem «kollektiven Westen» befinde.
Die Reise könne laut Steenbergen auch für weitere Drohungen sorgen, den Konflikt eskalieren zu lassen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (55) sagte bereits am Dienstag, dass Selenski den Konflikt «verschärfe» und Friedensverhandlungen mit dem Besuch vom Tisch seien. Doch der Politologe bezweifelt, ob es dadurch zu einer neuen Eskalationsstufe kommt. «Putin hat meiner Meinung nach erkannt, dass der Besuch es nicht wert ist, etwas zu riskieren», sagt er.
«Selenski hat die Möglichkeit, seine Dankbarkeit persönlich auszudrücken»
Die Ukraine jetzt zu verlassen, sei riskant. Russland beobachtet genau, was Selenski macht. Deshalb wird sein Aufenthaltsort stets geheim gehalten. Laut dem Weissen Haus hätten Washington und Kiew «angemessene Sicherheitsvorkehrungen» vereinbart und die Polizei-Präsenz im Kapitol erhöht.
Dass der Ukraine-Präsident keine Angst hat, Risiken einzugehen, bewies er bereits am Dienstag. Um die ukrainischen Soldaten zu ehren, reiste er an den «heissesten Punkt» an der Frontlinie – nach Bachmut. Nur Stunden später kam es zu harten Auseinandersetzungen zwischen russischen und ukrainischen Streitkräften in der Stadt.
Selenski bekam bei seinem Besuch auch eine ukrainische Flagge überreicht, die von den kämpfenden Soldaten unterschrieben wurde. Sie baten darum, diese «unseren Brüdern aus Amerika», wie der Kommandant sagte, zu schenken. Dass Selenski diese Flagge nun persönlich übergeben kann, hat eine hohe symbolische Wirkung. Steenbergen: «Selenski hat die Möglichkeit, seine Dankbarkeit persönlich auszudrücken.»