Über 1000 Verhaftungen in drei Wochen
Briten-Premier greift bei Protesten durch – darf er das?

Gewaltsame Proteste erschüttern England nach dem Mord an drei Mädchen in Southport. Über 1000 Verhaftungen und harte Strafen prägen das Bild. Premierminister Starmer setzt auf Härte, doch Experten warnen vor langfristigen Folgen.
Publiziert: 16.08.2024 um 19:49 Uhr
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Aktualisiert: 17.08.2024 um 14:50 Uhr
England wird von brutalen Protesten heimgesucht.
Foto: Getty Images
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Seit gut drei Wochen wird England von gewaltsamen, ausländerfeindlichen Protesten heimgesucht. Über 1000 Personen wurden bereits verhaftet. Auch auf internationaler Bühne werden die Demonstrationen heiss diskutiert. Unter anderem Tech-Milliardär und X-Besitzer Elon Musk (53) empört sich über die vielen Verhaftungen und Einschränkungen der Redefreiheit im Vereinigten Königreich. Auch nimmt er rechtsradikale X-User in Schutz. Die britische Regierung hält dagegen. Doch ist der heftige Umgang mit den Demonstrierenden wirklich gerechtfertigt?

Warum wird in England demonstriert?

Auslöser der Proteste war der tragische Mord an drei jungen Mädchen (†6, †7, †9) in der Küstenstadt Southport am 29. Juli. Der Brite Axel Rudakubana (17) erstach die Mädchen bei einem Taylor-Swift-Tanzkurs, acht weitere Kinder und zwei Erwachsene wurden verletzt. Bereits wenige Stunden nach der grausamen Tat schwirrten Falschmeldungen über den Täter durchs Netz. Bei dem Teenager solle es sich um einen Asylbewerber aus Ruanda handeln, der in einem Boot über den Ärmelkanal nach England gekommen sei.

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Seit drei Wochen finden in England ausländerfeindliche Demonstrationen statt.
Foto: Getty Images

Tatsächlich stammt Rudakubana aus einer ruandischen Familie – wurde aber in Grossbritannien geboren. Dass es sich um eine Falschmeldung handelte, interessierte die Demonstrierenden nicht. Die ausländerfeindlichen Proteste breiteten sich aus wie ein Lauffeuer.

... und was sind die Gründe für die Demonstrationen?

Die Beweggründe der Demonstrierenden sind viel tiefgreifender als der Vorfall in Southport. Die Unruhen finden überproportional häufig in Städten und Gemeinden statt, die unter schlechter Infrastruktur und Armut leiden. Orte, an denen die Bevölkerung in den letzten Jahren den bröckelnden britischen Staat am eigenen Leib erfuhren. Und, getrieben von rechter Rhetorik in den sozialen Medien und der Politik, schnell einen Sündenbock für ihre Misere fand: Ausländer.

Der US-Sender CNN sprach in Sheffield am Mittwoch mit Demonstranten. Einer erklärte: «Man bekommt keinen Termin beim Arzt, beim Zahnarzt oder im Krankenhaus. Wir sind in unserem eigenen Land zu Bürgern zweiter Klasse geworden.» Er behauptet, Asylanten würden im System bevorzugt werden. Das lasse sich so nicht bestätigen, schreibt CNN. Doch dieses Misstrauen gegenüber dem eigenen Staat hat sich in den Köpfen der Briten anscheinend festgesetzt.

Wer demonstriert da eigentlich?

Zahlreiche Teilnehmende teilten im Vorfeld der Proteste rechtsextremes Gedankengut in den sozialen Medien. Auch der britische Premierminister Keir Starmer (61) sagte, die Gewalt sei das Ergebnis «rechtsextremer Schläger». Prominente Anti-Immigrations- und Anti-Muslim-Aktivisten haben im Internet für die Proteste geworben und wurden von Politikern und Medien beschuldigt, sie würden mit Fehlinformationen hausieren gehen, um die Spannungen zu schüren.

Nach Angaben der britischen Polizei handelte es sich bei den Beteiligten an den gewaltsamen Zusammenstössen hauptsächlich um rechtsextreme Stimmungsmacher. Allerdings nehmen auch Personen an den Protesten teil, die weder gewalttätig noch offen rechtsradikal sind.

Wieso reagiert die Justiz mit so harten Strafen?

Premier Starmer kündigte in den ersten Tagen der Proteste an, die Demonstrierenden hart zu bestrafen: «Sie werden die volle Wucht der Justiz zu spüren bekommen.» Diese Ankündigung wird umgesetzt: 1000 Verhaftungen in 20 Tagen. Es ist eine atemberaubende Zwischenbilanz.

Ein Grossteil der Personen, die wegen ihrer Beteiligung an den Protesten bereits verurteilt wurden, erhielten eine Gefängnisstrafe. Von den 54 Verurteilungen wurden 47 Erwachsene und drei Minderjährige zu Freiheitsstrafen von durchschnittlich zwei Jahren verurteilt. Insgesamt werden 275 Personen wegen ihrer Rolle bei den Unruhen strafrechtlich verfolgt. Das berichtet die britische BBC.

Starmer ist bekannt für heftige Massnahmen. Als 2011 ein schwarzer Brite von der Polizei erschossen wurde, brachen ähnlich gewaltvolle Proteste aus. Starmer, damals noch Direktor der britischen Staatsanwaltschaft, setzte sich für den umstrittenen Einsatz von 24-Stunden-Gerichten und die Verschärfung der Strafen für mehr als 2000 Erwachsenen und Kindern ein. Damals – und auch heute noch – vertrat er die Meinung, dass schwere Strafen die effektivste Methode sei, um solche Proteste einzudämmen.

Ist diese Reaktion gerechtfertigt?

Experten warnen aber: Die schnellen und zahlreichen Verurteilungen könnten kontraproduktiv sein. Rechtsexperten fordern laut «The Guardian» die derzeitige Regierung auf, die Lehren aus 2011 zu ziehen und das Versäumnis der damals regierenden Tories, die Ursachen der Unruhen vollständig zu untersuchen, nicht zu wiederholen.

Tim Newburn, Kriminologie-Professor an der London School of Economics, sagte gegenüber der Zeitung: «Die Gefahr in all diesen Fällen ist, dass wir nach einer simplen Erklärung greifen und diese dominiert. Eine unterlassene Untersuchung der Gründe bedeutet, dass man die Chance verpasst, künftige Probleme zu entschärfen.» Es sei wichtig, dass man sich mit den Hintergründen befasst und die Probleme der Bevölkerung ernst nimmt und anpackt. «Man kann solche Probleme nicht einfach wegsperren.»

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