Die tunesische Botschaft in Bern ist gar nicht erfreut über die Artikelserie, die der Blick vergangene Woche über den nordafrikanischen Küstenstaat veröffentlicht hat. Blick hatte in Tunesien mit jungen Menschen gesprochen, die sich über die fehlenden Perspektiven im Land beschwerten und fast ausnahmslos erzählten, dass sie nach Europa migrieren wollen – wenn nötig illegal.
Mehrere Tunesier sprachen offen darüber, dass sie mit einer Karriere als Kleinkriminelle liebäugelten, da sie hier wenig zu befürchten hätten. «Eure Gefängnisse sind ja so luxuriös», sagte einer der Interviewten. «Entwürdigend» findet das Mohamed Nabil Kasraoui, der Geschä́ftsträger der tunesischen Botschaft in der Schweiz. Er fordert Blick dazu auf, eine Gegendarstellung zu veröffentlichen und schreibt:
«Der Artikel ist nicht objektiv. (…) Er vermittelt den Eindruck, dass junge Tunesier nur ein Ziel haben, nämlich das Land auf illegale Weise zu verlassen. Das entspricht nicht der Realität und dem wahren Potenzial des Landes. Tunesische Fachkräfte sind auch im Ausland sehr gefragt.»
Nur aus einem Land kamen 2023 noch mehr Migranten nach Europa
Tatsache bleibt: Neun von zehn Tunesiern, mit denen Blick vor Ort gesprochen hat, wollen weg – wenn nötig illegal. Eine Studie der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung vom vergangenen Jahr bestätigt die massive Unzufriedenheit junger Tunesier mit dem zunehmend autoritär regierenden Regime, das seit Juli 2021 weite Teile der Verfassung ausgehebelt und dem Präsidenten Kais Saied (66) einen ungesunden Machtzuwachs verschafft hat. Die Stiftung hat mit 1000 Tunesiern zwischen 16 und 30 gesprochen. 57 Prozent sagten, sie wollten weg. 2023 haben 17'300 Tunesier ihre Heimat illegal per Flüchtlingsboot verlassen. Nur aus Guinea (18'200) kamen noch mehr Migranten nach Europa.
Tunesier fallen in der Schweiz auffällig häufig negativ auf. Die polizeiliche Kriminalstatistik unterstreicht das, doch Kasraoui verweist lieber auf den «Erfolg» der Schweizer Berufsprogramme in Tunesien. 101 Millionen Franken investierte die Schweiz zwischen 2021 und 2024 in die Wirtschaft und die Demokratisierungsbemühungen in Tunesien. Auf die Nachfrage, welche Wirkung die Schweizer Investition konkret hat, antwortete Kasraoui nicht.
Vom Austauschprogramm, das bis zu 150 Tunesiern jedes Jahr die Möglichkeit für einen Ausbildungsaufenthalt in der Schweiz böte, machten seit dem Start des Projekts 2015 im Schnitt nur 19 Personen pro Jahr Gebrauch. Dafür stellten letztes Jahr 572 Tunesier ein Asylgesuch in der Schweiz – 42 Prozent mehr als noch im vergangenen Jahr.
Der Botschaftschef schweigt
Botschaftsleiter Kasraoui verweist in seiner Stellungnahme auf die komplexen Ursachen des «Migrationsphänomens», mit dem Tunesien konfrontiert sei. Da hat er recht: Die Ursachen für Fluchtbewegungen sind vielfältig. Der Schweizer Asylminister Beat Jans weilt gerade dieser Tage in Tunesien, um mit der Regierung über das Thema zu sprechen – und womöglich über eine neue Finanzspritze für das angeschlagene Regime zu diskutieren. Der Kooperationsvertrag zwischen Bern und Tunis läuft Ende Jahr aus.
Blick hätte von Herrn Kasraoui gerne gewusst, was sein Land mit dem Schweizer Zustupf der vergangenen vier Jahre konkret erreicht hat, wie es seine junge Bevölkerung von der Landflucht abhalten will, warum inzwischen fast zwei Drittel (62 Prozent) aller Afrika-Flüchtlingsboote von Tunesien aus ablegen und was seine Regierung nach Ablauf des Kooperationsprogrammes Ende Jahr jetzt von der Schweiz verlangt.
Herr Kasraoui wollte dem Autor aber kein Interview geben. Auch auf die schriftlichen Fragen hat er nicht geantwortet.