«Machst du Witze?», fragt Anwar (24) und zeigt mit der ausgestreckten Hand auf die rund 50 Menschen, die in der tunesischen Küstenstadt Sfax vor dem alten Stadttor sitzen. «Natürlich wollen alle weg hier, jeder Einzelne. In Tunesien gibt es für uns keine Zukunft.»
Drei Jahre ging Anwar zur Schule, danach fand er keinen Job, hatte viel tote Zeit. Eine typische Biografie in Tunesien. Das Maghreb-Land verzeichnet rekordhohe Auswanderungsquoten, trotz Millionenhilfe für die Wirtschaftsentwicklung aus der Schweiz und der EU. Viele verlassen Tunesien illegal und landen als aussichtslose Asylbewerber in Europa, wo sie auffällig oft straffällig und renitent werden – auch in der Schweiz.
«Vielleicht finde ich im Internet eine Europäerin, die mich heiraten will», sagt Anwar an diesem warmen Frühlingsnachmittag in Sfax. «Sonst nehme ich das Schiff und mache die ‹harka›, die Überfahrt», erzählt Anwar. «Auch meine Eltern sagen, yalla, geh! In Europa ist es besser.»
6000 Dinar, umgerechnet 1700 Franken, kostet die Überfahrt auf die italienische Insel Lampedusa mit einem Flüchtlingsboot. Das weiss jeder hier. Mehr als jeder zehnte der 157'651 Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr per Boot nach Italien gekommen sind, ist Tunesier (nur aus Guinea strömen derzeit noch mehr Migranten nach Europa). Und: Die Schweiz ist hoch im Kurs bei den fluchtwilligen Tunesiern – aus einem ganz bestimmten Grund.
«Bei euch kann man prima klauen und dealen»
«Eure Gefängnisse sind so luxuriös», lacht Wajdi (17) und erzählt von seinen Freunden, die es schon bis in die Schweiz geschafft haben. Auch der junge Coiffeur will ins Land mit den «schönen Zellen». Mit seinen Freunden sitzt er auf der staubigen Strasse vor dem César Hair Style-Salon in Sfax. Der Herrenschnitt kostet drei Franken, doch Kunden sind weit und breit keine zu sehen. «Wenn ich da keinen Job als Coiffeur kriege, dann kann man ja bei euch prima klauen und dealen», sagt Wajdi.
Davon kann man gut leben. Und: Schweizer Gefängnisse geniessen in Tunesien einen guten Ruf. Das bestätigen zwei weitere junge Männer, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchten. Sie ziehen den helvetischen Knast der tunesischen Freiheit vor – ohne zu zögern. In die Schweiz zum Klauen. Was soll schon passieren…
Der Polizei bescheren Migranten aus Tunesien und anderer Maghreb-Staaten hierzulande seit längerem Kopfschmerzen. Maghrebiner sind die Hauptverantwortlichen für Diebstähle aus Fahrzeugen, die sich im vergangenen Jahr schweizweit fast verdoppelt haben. Unter den Maghrebinern gäbe es auffällig viele Wiederholungstäter, schreibt die Stadtpolizei Zürich auf Anfrage. Sie seien im Kontakt mit der Polizei häufig «frech und vorlaut», teilt die Kantonspolizei Bern mit. Die Täter würden sich «oft renitent verhalten und unsere Mitarbeitenden bedrohen oder angreifen». Die mehrheitlich jungen Männer wüssten, dass sie kaum etwas zu befürchten hätten.
Deshalb fliehen die Tunesier in Scharen aus ihrer Heimat
572 Tunesier haben in der Schweiz 2023 ein Asylgesuch gestellt, 42 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Nur die Asylgesuche aus Marokko und der Türkei sind noch stärker angestiegen. Gesuche von Tunesiern sind praktisch aussichtslos. Nur rund ein Prozent haben überhaupt eine Chance. Deshalb gibt es für Maghrebiner seit Januar schweizweit 24-Stunden-Schnellverfahren. Ein Versuch, die rasch wachsenden Gesuchszahlen in den Griff zu bekommen.
Schweizer Verschärfung hin oder her: Der gute Ruf unseres Landes (und seiner Gefängnisse), der Kontakt zu Tunesiern, die schon hier leben, und nicht zuletzt die schwierige Lage in der Heimat treiben die Menschen in Scharen aus dem an sich wunderschönen Mittelmeerland. 17'972 Tunesier haben im vergangenen Jahr laut der Internationalen Organisation für Migration auf Flüchtlingsbooten das Mittelmeer überquert.
Der tunesischen Regierung läuft das Volk regelrecht davon. Jüngst hat Tunis deshalb ein Besuchsverbot für die tunesischen Kerkenna-Inseln rund zehn Kilometer vor der Küste von Sfax erlassen. Auf die Fähre lässt die Hafenpolizei nur noch ausländische Touristen und Tunesier, die nachweisen können, dass sie auf Kerkenna ein Haus besitzen. Alle anderen stehen unter Generalverdacht, die Insel nur als Sprungbrett für die illegale Weiterreise nach Lampedusa zu missbrauchen.
Es gibt wenig, was die Tunesier in ihrer Heimat hält. Nur knapp 300 Franken verdienen sie im Schnitt pro Monat, mehr als 40 Prozent der unter 25-Jährigen sind arbeitslos. Es fehlt an vielem. Immer wieder gehen dem Land der Zucker und das Mehl aus. Olivenöl ist fünfmal so teuer wie noch vor kurzem. Sogar die Bestechungsgelder für die Polizisten seien wegen der Inflation massiv höher, klagen die Tunesier. Der Tourismus, von dem das Land jahrzehntelang gut gelebt hat, liegt nach der Pandemie und mehreren islamistischen Terroranschlägen darnieder.
Was nützen die Schweizer Millionen für Tunesien?
An der miserablen Lage haben auch die 101 Millionen Franken nicht viel geändert, die die Schweiz zwischen 2021 und 2024 für Projekte zur Stärkung der Demokratie und zur Förderung der Wirtschaft an Tunesien überweisen liess. Das nordafrikanische Land ist aktuell sogar eines der Schwerpunktländer der Schweizer Entwicklungshilfe.
Und: Es hat mit der Schweiz 2012 ein Migrationsabkommen unterzeichnet. Die Schweiz stellt für bis zu 150 Tunesier jährlich Visa für Arbeits- oder Studienaufenthalte aus. Im Gegenzug nimmt Tunesien abgewiesene Asylbewerber wieder auf. 451 Personen hat die Schweiz im Rahmen des Abkommens schon nach Tunesien abgeschoben, 402 gingen – Stand Ende 2023 – freiwillig zurück. Die Schweiz bezahlt die Flüge und überweist den Ausreisenden einen Geldbetrag in ungenannter Höhe als Starthilfe im Heimatland.
Einen solchen Zustupf würde auch Murat (39) mit Handkuss nehmen. Er sitzt unten am Hafen von Sfax im Schatten der Palmen und wartet auf Kunden, die mit einem seiner drei Kinder-Elektro-Autos für ein paar Dinar ein paar Runden drehen wollen. Weg aber, das will Murat nicht – als einziger aller Tunesier, mit denen Blick vor Ort gesprochen hat. «Mein Bruder will gehen, viele Freunde wollen gehen. Ich versuche, sie daran zu hindern. Wer will, schafft es in Tunesien. Aber viele wollen lieber in Europa dealen oder klauen, statt hier hart zu arbeiten», sagt Murat. Sterben werde er irgendwann, ob er nun in Sfax bleibe oder fortgehe. «Und bis dahin halte ich schon durch, al-Hamdu li-Llah.»