Mohammed (17) sitzt im Dreck neben der schmalen Strasse und kaut auf einem Stück Weissbrot. Die Brösmeli kleben ihm im verschwitzten Gesicht. An den Kleidern Lehm und Staub. Mohammed ist das egal. Alles ist ihm egal. «Sie haben meine Eltern getötet in Mali. Ich bin Tausende Kilometer durch die Wüste gelaufen. Das Meer? Vor dem habe ich keine Angst», sagt er und kaut weiter.
Nah ist es, das Meer. Gleich hinter dem Feld mit den Olivenbäumen und den Plastikzelten rauscht es seichwarm an den mit Seetang gesäumten Stränden. «Kilomètre dix-neuf» nennen sie den Ort 19 Kilometer nördlich der tunesischen Schlepper-Hochburg Sfax. El Amra heisst das Fischerdorf auf der Landkarte. Entlang der Strasse betteln Flüchtlingsfrauen mit kleinen Kindern um Wasser. Kamele warten stoisch vor den Metzgereien auf ihr Schicksal. Einheimische schlürfen unter Johannisbrotbäumen Kaffee. Migranten aus Schwarzafrika ziehen auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Gassen.
Tausende von ihnen hausen hier am «Kilomètre dix-neuf» unter freiem Himmel. An der Küste warten sie auf das nächste Boot, das sie mitnimmt. Seit das Nachbarland Libyen seine Küstenwache mit EU-Geldern massiv aufgestockt hat, ist Tunesien zum Mekka all jener geworden, die vom Paradies auf der anderen Seite des Wassers träumen. 62 Prozent der mehr als 150'000 afrikanischen Flüchtlinge, die 2023 ins Meer stachen, bestiegen ihr Boot in dieser Küstengegend. Was sie da draussen erwartet, davon haben sie keine Vorstellung.
Unten am Meer liegen die rostigen Überreste der Stahlboote, mit denen die Migranten jede Nacht aufs Neue zur Harka, der Überfahrt nach Lampedusa (Italien), aufbrechen. 30 Prozent schaffen es ans Ziel, schätzt ein Schlepper, mit dem Blick gesprochen hat. Die anderen werden von der Küstenwache aufgehalten – oder versinken auf offenem Meer.
1000 Euro für die Fahrt in den Tod
1027 Menschen sind laut der Uno dieses Jahr bei der Harka bereits ums Leben gekommen. Tausende mehr werden diesen Sommer noch sterben. Die Hoffnung auf «Drüben» treibt sie durch die Wüsten und hinaus ins salzige Grab. Viele lassen sich vor der Überfahrt in einer der Untergrund-Kirchen im muslimischen Tunesien taufen. Wenn schon ertrinken, dann wenigstens mit Ausblick auf den Himmel. Doch ertrinken: Dieses Wort benutzen die Geflohenen hier nicht mehr. Sie sagen: «Der und der, die sind im Wasser geblieben.»
Im Wasser geblieben.
Die Sprache vernebelt den Blick auf den Horror, der jedem dieser Menschen hier auf der 186 Kilometer langen Fahrt nach Lampedusa droht.
Rund 1000 Dollar oder Euro müsste Mohammed den Schleppern bezahlen, die ab und an hier auftauchen und fragen, wer Cash habe und mitkommen wolle. Dann könnte er sich einen der Gummischläuche packen, die Billigvariante der Schwimmwesten, ein paar Schlucke Milch trinken, wie das viele vor der Harka tun, und dann raus ins nasse Verderben.
Mohammed hat aber keine 1000 Dollar. Davida (15) hatte sie auch nicht. Aber sie konnte trotzdem schon einmal mit aufs Boot. Wie sie das geschafft hat? Das Mädchen mit dem bedeckten Haar schaut auf die Erde. «Es war schlimm. Wir mussten schwimmen. Die Polizei kam. Jetzt bin ich wieder hier.»
Den Flüchtlingsfrauen bleibt nur «Bizi», um Geld zu verdienen
Mehr und mehr Menschen gesellen sich zu Mohammed und Davida am Strassenrand. Sie erzählen, viele wütend: von der Polizei, die mit Tränengas auf sie schiesse; von den Menschen in der Stadt, die sie jagten wie die Tiere. Mehrfach soll die tunesische Polizei Migrantengruppen in der Wüste nahe der libyschen Grenze ausgesetzt haben, ohne Wasser.
Im März 2023 hielt Tunesiens Präsident Kais Saied (66) eine Rede, in der er von einem «kriminellen Plan» schwadronierte, den afrikanische Länder gegen Tunesien ausheckten. «Sie wollen die Demografie unseres Landes verändern. Sie wollen hier Migranten aus Subsahara-Afrika ansiedeln.» Die Rede löste gewaltsame Proteste aus.
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Afrikaner – als solche sehen sich die Tunesier selber nicht – sind von allem ausgeschlossen: Arbeit, Unterkünfte, Nothilfesysteme. Viele Frauen bieten in der Verzweiflung über Facebook Bizi an, Sex gegen Geld. Männer schlagen sich auf dem Schwarzmarkt durch.
Selbst auf den Flüchtlingsbooten herrscht die Zweiklassengesellschaft
Tunesien ist eine Zweiklassengesellschaft, bis hinaus aufs Meer. Mehdi* (37), ein tunesischer Schlepper, erzählt beim Gespräch an einem geheimen Ort in Sfax, er nehme keine Schwarzafrikaner mehr mit, er arbeite nur noch mit maghrebinischen Kunden. Der Grund: Die Schwarzafrikaner würden die tunesischen Fischer, die als Schlepper-Captains auf den Booten mitreisen und sich bei der Ankunft als normale Flüchtlinge tarnen, verpfeifen.
Deshalb bauen sich die Verdammten dieses Kontinents jetzt ihre eigenen Boote aus Stahlplatten. Sie haben eigene Captains, selten nur Seekarten oder GPS, praktisch nie richtige Schwimmwesten. Mehr als 800 Leichen wurden 2022 in der Gegend an die Küste gespült. 800 tote Menschen.
«Gott wird es richten», sagt Mohammed, der Malier. Doch eine falsche Welle, ein bisschen starker Wind, und Gott ist schachmatt da draussen auf dem Meer. Mohammed will das nicht hören. «Le Dieu», sagt er nochmals, zeigt in den blauen Himmel. «Inshallah.»
Unweit von Mohammeds erdigem Rastplatz, versteckt hinter weissen Backsteinmauern, liegt ein grosser Friedhof. Da sind Tausende muslimische Gräber, ausgerichtet nach Mekka, versehen mit Geburts- und Todesdatum, mit Namen und Heimatort. Ganz am Rand liegt eine Reihe mit Gräbern ohne Grabsteine, markiert nur mit Lehmplatten. «Afrikaner» ist in die Platten geritzt. Nur das, und die Zahl des Grabes. Mehr weiss oft niemand über jene, die der Tod hier an die Küsten spült. Man weiss nur: Sie sind im Wasser geblieben.
* Name geändert