Taiwan ist im Visier Chinas. Seit Monaten spekulieren Experten über eine mögliche Invasion der Insel durch die chinesische Volksbefreiungsarmee. Der US-Geheimdienst CIA geht von einem Angriff in den nächsten Jahren aus. Und trotzdem entscheiden sich junge Menschen, auf die Insel zu ziehen, um dort den Spuren ihrer Familie nachzugehen, dort zu leben und zu arbeiten.
Einer von ihnen ist Brian Hioe (31). Er wuchs in New York auf. Seine Mutter ist Taiwanerin, sein Vater hat chinesisch-indonesische Wurzeln und kam in den Sechzigerjahren auf die Insel, als diese noch eine Militärdiktatur unter Machthaber Chiang Kai-shek (1887–1975) war. In seiner Jugend herrschte in Brians US-amerikanischen Heimat eine folkloristische Vorstellung des Lebens auf der Insel. Deshalb entschied er sich, im Jahr 2014 nach seinem Highschool-Abschluss nach Taiwan zu ziehen und dort zu studieren. «Eigentlich wollte ich von dort aus ganz Asien erkunden. Aber daraus wurde nichts. Ich bin immer noch hier», sagt Hioe.
Während seines Studiums erlebte der Amerikaner die Sonnenblumen-Bewegung mit. Damals wehrten sich Studierende gegen ein Handelsabkommen, das die konservative Regierung ohne Parlamentsbeschluss durchbringen wollte. Die Angst ging um, dass so durch die Hintertür die Unabhängigkeit Taiwans verspielt würde. Brian schloss sich der Bewegung an und gibt noch immer ein eigenes Magazin heraus, das er damals gegründet hat und das den Namen «New Bloom» trägt. Jetzt steht er an einer Bartheke, die zur Redaktion gehört. Hier finden auch Diskussionsveranstaltungen und kleine Konzerte statt. Während er ein Bierglas spült, sagt er: «Ich war schon zu Schulzeiten ein Aktivist.» Jetzt lebt er in einem Land, das seine ganze Existenz auf Aktivismus gründet.
Xi attackiert die Unterstützter Taiwans
Die geopolitische Situation Taiwans ist einmalig auf der Welt, weswegen Brian Hioe der Stoff wahrscheinlich nie ausgehen wird. Taiwan ist der letzte Zipfel der Republik China, deren Armee 1949 nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs den Truppen Mao Zedongs (1893–1976) unterlegen war. Die Regierung der 1912 gegründeten ersten chinesischen Republik zog sich mit rund zwei Millionen Flüchtlingen und Kunst- und Kulturschätzen, die sie vor Mao retteten, auf die Insel Taiwan zurück. Der Kommunist rief die Volksrepublik China aus, doch bis Ende der Siebzigerjahre erkannten die meisten Staaten der Welt weiterhin die Republik China an, die auch Gründungsmitglied der Vereinten Nationen ist. Nachdem die Weltgemeinschaft dem Beispiel der USA folgte und die Volksrepublik China diplomatisch anerkannte, erhielt Taiwan einen Sonderstatus und die gesetzlich verankerte Garantie der USA, das kleine Land bei der Verteidigung gegen die benachbarte Volksrepublik zu unterstützen, sollte von dort Gefahr drohen. Heute unterhalten unzählige Länder quasi-diplomatische Beziehungen zu dem Land. Doch Pekings Machthaber Xi Jinping (69) hat seit seinem Amtsantritt immer mehr Länder und Unternehmen, die Taiwan als eigenes Land auf ihren Webseiten listen, unter Druck gesetzt.
Seit er im Jahr 2013 an die Macht gekommen ist, wird er nicht müde, eine «Wiedervereinigung» zum wichtigsten Ziel seiner lebenslangen Amtszeit aufzurufen. Zwar behauptet er, dass es dafür zu keinem Krieg kommen müsse. Aber im März hat Xi bei wichtigen Sitzungen in Peking das Militär aufgerufen, sich auf einen bevorstehenden Krieg vorzubereiten. In Taipeh findet man mittlerweile Hinweisschilder in chinesischer und englischer Sprache, die in Richtung des nächsten Luftschutzkellers weisen. Die Gefahr ist real, das weiss auch Hioe: «Meine Freude und ich wissen, dass wir hier sterben könnten.»
Um das Taiwan seiner Vorfahren noch kennenzulernen, bevor es von Chinas Armee unterjocht wird, ist Johnson Liu (27) vor sechs Jahren aus Australien zum ersten Mal für längere Zeit und aus traurigem Anlass auf die Insel gekommen. «Nach dem Tod meines Grossvaters haben wir, der Tradition gemäss, als Familie einen Monat zusammen im Haus meiner Grosseltern auf dem Land gelebt.» Das Zusammensein, die Traditionen – all das liess den Wunsch in Johnson wachsen, nach Taiwan zurückzukehren, «bevor es zu spät ist», wie er sagt.
Im März kehrte er zurück, um die traditionellen Riten der Grabpflege, die einmal im Jahr stattfinden, mit der Familie zu begehen. Seit dem Ende der Feiertage reist er über die Insel und fängt mit seiner Kamera Szenen des Lebens ein, das vielerorts ausserhalb der Metropole Taipeh – in den kleinen Ortschaften am Meer und in den Bergen – noch abläuft wie vor Jahrzehnten. Seine Kamera trägt er immer bei sich, um keinen guten Moment zu verpassen, die Augen sind wach, jede Geste bedacht.
Das traditionelle Leben im Familienverband ist es auch, was Emily Knox (33) zurück nach Taiwan brachte. Als Kind verbrachte sie einige Jahre in Kaohsiung, einer drei Millionen Einwohner grossen Hafenmetropole im Süden des Landes. Der Hafen ist einer der 20 grössten der Welt, das Wetter ist immer sonnig, von Mai bis Oktober sehr schwül, dafür aber nicht so verregnet wie die Hauptstadt Taipeh im Norden. «Wir haben als Familie in einem Haus auf mehreren Etagen zusammengelebt. Es war völlig klar, dass die jüngere sich um die alte Generation kümmert», sagt sie, die heute als DJ in den Clubs von Taipeh Techno auflegt. «Diese Selbstverständlichkeit gibt es in den USA nicht.»
Emily ist in der Alternativ-Szene Taipehs zu Hause, hier hat sie als Barkeeperin, Sängerin und Tänzerin gearbeitet. «Mit meinem Abschluss in Business Administration habe ich nie wirklich etwas gemacht. Mich haben immer Tanz und Musik mehr interessiert als Zahlen und Quartalsergebnisse», sagt sie. Sie wolle den eigenen Traum verwirklichen, hier klingt Emily sehr amerikanisch.
Die Zuwanderung geht zurück
Die Zahl der auf Taiwan lebenden Ausländerinnen und Ausländer stieg seit den demokratischen Umwälzungen auf der Insel Anfang der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts beständig. Waren es im Jahr 1992 nur rund 45'000 Personen, so kletterte die Zahl bis zum Jahr 2020 auf fast 800’000 Menschen, die auf der Insel neben den rund 23,5 Millionen Taiwanerinnen lebten und arbeiteten. Doch die Corona-Pandemie und die prekäre politische Lage, in der sich die Insel wegen der ständigen Bedrohungen durch die benachbarte Volksrepublik befindet, setzten diesem Trend ein Ende: Seit 2020 ist die Zahl der Ausländer auf Taiwan rückläufig und lag zuletzt bei rund 753'000.
Ein Leben, das verschiedene Identitäten miteinander zu vereinen sucht, kennt Johnson Liu aus seiner Kindheit in Australien: «In der Schule wurden wir nach westlichen Werten erzogen und angehalten, unsere Meinung zu sagen und unsere Lehrer herauszufordern. Zu Hause galt dann das genaue Gegenteil, nämlich der Respekt vor den Älteren, deren Aussagen man nicht in Zweifel zieht.» Johnson findet nicht, dass das eine besser als das andere ist. «Aber mir wurde dann doch irgendwann einmal klar, dass ich nicht nur Australier, sondern auch Taiwaner bin.»
Wie Johnson und Emily hat auch Brian zu Hause mit seinen Eltern Mandarin gesprochen. Diese Sprachkenntnisse haben allen drei die Entscheidung, dauerhaft nach Taiwan zu ziehen, erleichtert. Alle drei wertschätzen in der einen oder anderen Weise die traditionelle Lebensweise auf der Insel, die sich von der in den englischsprachigen, westlichen Ländern, in denen sie aufgewachsen sind, unterscheidet. Gleichzeitig findet Emily: «Auf Taiwan gibt es mittlerweile gerade bei der jungen Generation eine Offenheit für Neues, was es früher so nicht gab.» Die junge Inseldemokratie gilt als das liberalste Land dieser Weltregion. Als erste Nation Asiens führte Taiwan im Jahr 2019 die Ehe für alle ein, und das in einem Moment, in dem Xi in China begann, homosexuelle Menschen zu unterdrücken. Seit drei Jahren darf in Shanghai keine Pride Parade mehr stattfinden. Der Umzug in Taipeh ist der grösste in diesem Teil der Welt und zieht Gäste von überallher an. Auf dem weltweiten Demokratie-Index des Magazins «The Economist» liegt Taiwan wegen dieser Offenheit auf Platz 8, Deutschland kommt auf Platz 15, und die Vereinigten Staaten liegen auf Platz 26.
Anhaltende Sorgen wegen China
Dass damit jeden Tag Schluss sein kann, treibt die Menschen auf Taiwan um. «Die Sorge ist immer irgendwo im Hinterkopf», sagt Brian, «und das mehr oder minder konstant seit 2014, seit der Sonnenblumen-Bewegung.» Nach dem Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi (83) im August 2022 übte Peking zum ersten Mal eine völlige Blockade der Insel. Für mehrere Tage konnten im Hafen Kaohsiung keine Schiffe ein- oder auslaufen, was Auswirkungen auf den Welthandel hatte. In diesem Sommer meldeten sich die Taiwaner in Rekordzahlen für Überlebenskurse an, in denen sie auf einen möglichen Kriegsausbruch vorbereitet wurden.
«Die Armee hier ist womöglich nicht in der Lage, die Insel zu verteidigen», fürchtet Emily. Das ist eine Sorge, die sie mit Präsidentin Tsai Ing-wen (66) teilt, die erst kürzlich die Wehrpflicht von vier Monaten auf ein Jahr erhöht hat. Auch wenn die Volksbefreiungsarmee, wie die chinesische Armee genannt wird, mit zwei Millionen Kriegern viel grösser ist als die taiwanesische, die auf ein stehendes Heer von rund 170’000 Soldaten kommt, ist ein Sieg Pekings alles andere als gewiss. An Taiwans Küste anzulanden, wäre nicht einfach. Eine Besatzung der Insel müsste schnell erfolgen, bevor die USA Taiwan von ihrem Stützpunkt auf dem nahe gelegenen japanischen Okinawa zu Hilfe eilen können.
Xi Jinping schaut genau auf die Fehler, die Wladimir Putin (70) in der Ukraine gemacht hat. Schon jetzt bereitet sich Xi auf eine mögliche Schlacht vor: Überall in der Volksrepublik werden Rekrutierungsbüros eröffnet, um die Armee noch grösser zu machen. «Wenn es hart auf hart kommt, müssen mein Partner und ich im Fall eines Kriegsausbruchs zurück in die USA», befürchtet Emily. «Aber wenn wir hier irgendwie helfen können, dann bleiben wir hier.»
Auch Johnson sind seit seiner Rückkehr nach Taiwan im März die Hinweise auf die Bunker aufgefallen. «Die Lage wird immer unsicherer», meint er. «Auch wenn ich hier festsitzen sollte, wenn etwas passiert: Ich bleibe Optimist.» Alles wird davon abhängen, wie sich die internationale Gemeinschaft bezüglich Taiwan positioniert», meint Brian.
US-Präsident Joe Biden (80) hat bereits angekündigt, bei der Verteidigung Taiwans zu helfen, sollte Peking wirklich angreifen. Würde das demokratische Land an Peking verloren gehen, hätte dies Auswirkungen auf Demokratien überall in der Welt. Xi Jinping sind Demokratie, Freiheit und Menschenrechte ein Dorn im Auge. Aktivisten, Künstler und Musiker wie Brian, Johnson und Emily sind ihm ein Graus.
Xi Jinping spricht den Taiwanern ihre eigene Identität ab. So wie sein Busenfreund Wladimir Putin behauptet, dass es keine Ukraine gäbe, sagt Xi, dass die Taiwaner «Separatisten» seien, die es im Interesse der chinesischen Nation zu bekämpfen gelte. Wer den jungen Menschen zuhört, die auf die Insel gekommen sind, um mehr über diesen Teil ihrer Identität zu lernen, und die, nachdem sie fündig wurden, wie Brian, Emily und Johnson bleiben, lernt schnell, dass das Gegenteil wahr ist: Taiwan ist heute eine moderne, weltoffene Demokratie. «Es ist doch schade, dass die Welt heute von Taiwan hört, weil China es mit Krieg bedroht», meint Johnson. «Das Land hat so ein reiches kulturelles Erbe, das es zu entdecken gilt», meint er. Hoffentlich bleibt der Welt dafür die Zeit.