Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, 65) ist auf einem Auge blind. Wortwörtlich – seit einem Unfall beim Joggen letzte Woche trägt er auf dem rechten Auge eine Augenklappe. Aber auch metaphorisch: Probleme sieht der Kanzler nicht so gern. Dabei hat er einen ganzen Haufen davon.
Die Ampelkoalition (SPD, FDP und Grüne) startete nach einer achtwöchigen Sommerpause diese Woche in die zweite Hälfte ihrer Amtszeit. Die Ausgangslage könnte besser sein: Die Regierung stürzt laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA auf den tiefsten Wert seit der Bundestagswahl ab.
Dementsprechend gross war der Frust an der ersten Generaldebatte nach der Sommerpause, die am Mittwoch stattfand. An einer Generaldebatte sollte eigentlich über den Haushalt des Kanzleramts diskutiert werden, traditionell zeigt der Kanzler aber die groben Pläne für das kommende Jahr auf – und die Opposition rechnet damit ab. Dieses Jahr zankten sich Scholz und Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU, 67) äusserst heftig.
Scholz verdrängt seine Probleme
Diese Zerstrittenheit der Regierung ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Umfragewerte im Keller sind. Hinzu kommt, dass die Deutschen das Gefühl haben, dass die Regierung die Probleme des Landes nicht anpacke: Die Regierung müsse sich um die Wirtschaft kümmern, finden 28 Prozent der Deutschen laut einer repräsentativen ARD-Umfrage von Mittwoch. Die Zuwanderung in Deutschland ist für 26 Prozent der befragten Deutschen das grösste Problem im Land.
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Kein Wunder, liegt die rechtspopulistische AfD, im Umfragehoch. Sie verspricht Veränderung. Jonathan B. Slapin (43), Professor für Europapolitik an der Uni Zürich, erklärte jüngst gegenüber Blick: «Wir sehen die Frustrationen, die daraus resultieren, dass drei ideologisch unterschiedliche Parteien in der Regierung Schwierigkeiten haben, sich zu einigen. Dies ermöglicht es den Umfrageteilnehmern, der Regierung einen grossen Stinkefinger zu zeigen.»
Es wäre darum an der Zeit, dass Scholz Kante zeigt. Das tut er aber nicht – auf dem rechten Auge scheint er blind. Die AfD redet er im August als «Schlechte-Laune-Partei» klein. Ausgerechnet in dem Monat, in dem die AfD in mehreren Umfragen die Regierungspartei SPD überholte. Und damit bewies er einmal mehr: Statt sich als Kapitän des Schiffs zu inszenieren, nimmt er lieber die Position des Schiffsjungen im Krähennest ein: Beobachten statt handeln. Moderieren statt führen.
Deutsche Bevölkerung will ihren Kanzler nicht
Das schadet auch der SPD. Während sich Grüne und FDP mit einer Forderung, nach der anderen zu profilieren versuchen, verkümmere die SPD in diesem Bündnis zum Mauerblümchen, so der Vorwurf aus eigenen Reihen. Ein SPD-Abgeordneter sagte jüngst zum deutschen Magazin «Spiegel»: «Die Leute sagen: Scholz führt doch die Regierung, er muss mal auf den Tisch hauen.»
In der laufenden Haushaltswoche – zu der auch die Generaldebatte gehört – geht es ums Ganze. Einerseits zeigt die Regierung ihre Schlagrichtung auf, andererseits werden auch Konflikte öffentlich ausgetragen.
Und davon hat die Ampelkoalition viele, denn: Sie alle haben unterschiedliche Ziele. In Erinnerung bleiben die hitzigen und andauernden Streitereien um das Heizungsgesetz Anfang Jahr. Auch in der zweiten Amtshälfte bahnt sich in der Ampelkoalition ein grundsätzlicher Konflikt über die finanzielle Ausgestaltung des Landes an. Die FDP will die Kindergrundsicherung als letzte grössere Sozialreform dieser Legislaturperiode verstanden wissen. SPD und Grüne sehen Investitionen in den Sozialstaat hingegen als Zukunftsinvestitionen. Diese Debatten gingen so weit, dass die Grünen ein Gesetz blockierten.
Scholz muss jetzt überzeugen
Langsam scheint aber auch der stille Scholz verstanden zu haben, dass er als Kanzler anpacken, statt zu- oder wegschauen sollte. Am Mittwoch stellte er dem Deutschen Bundestag in einer feurigen Rede den «Deutschland-Pakt» vor. Scholz spricht über die Energiepolitik Deutschlands, den schleppenden Wohnungsbau in der Republik, die Wettbewerbsfähigkeit und die Digitalisierung. Alles soll jetzt besser, schneller und effizienter zustande kommen. Weil jetzt endlich alle zusammenarbeiten, wie er versprach. Bloss: Glaubt er das auch?
Es wird sich zeigen, ob Scholz das Zeug dazu hat, seine rauflustige Seemannschaft auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Zumindest während der Generaldebatte am Mittwoch wirkte es so, als müsste er noch viel Überzeugungsarbeit leisten.