Rote Laterne beim Wirtschaftswachstum, steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Industrieproduktion – schlechte Zahlen verhageln dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (65, SPD) zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl die Halbzeitbilanz. Schon macht wieder, wenn von Deutschland die Rede ist, das Wort vom «kranken Mann Europas» die Runde.
Das war zum letzten Mal um die Jahrtausendwende der Fall, als das britische Magazin «The Economist» Europas grösste Volkswirtschaft als «The sick man of the Euro» einstufte. Ende Juli nun veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Prognose, wonach die Wirtschaft in Deutschland als einzige unter mehr als 20 untersuchten Staaten und Regionen in diesem Jahr schrumpfen wird.
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Arbeitslosenzahlen steigen
Nach jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes sank die deutsche Industrieproduktion im Juni im Vergleich zum Vormonat um 1,5 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen im Juli lag um fast 150'000 höher als ein Jahr zuvor.
«Die grösste Volkswirtschaft in der Eurozone entwickelt sich zum kranken Mann Eurolands und belastet die Region erheblich», schrieb das Analyseinstitut Sentix in seinem jüngsten Bericht. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sind in heller Aufregung. «Deutschland befindet sich wirtschaftlich auf der Verliererstrasse, insbesondere im internationalen Vergleich», sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, der Deutschen Presse-Agentur.
Ostdeutsche Firmen leiden unter Russlandsanktionen
Als Gründe für die deutsche Malaise gelten unter anderem hohe Energiekosten, steigende Zinsen, zu viel Bürokratie, hohe Steuern und ein Fachkräftemangel. Dabei wirkt sich auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine aus, weil die günstigen russischen Erdgaslieferungen auf die Schnelle ersetzt werden mussten. Vor allem ostdeutsche Firmen leiden ausserdem unter den Russlandsanktionen.
Trotz schwieriger Gesamtlage hielt die «Ampel»-Koalition von Kanzler Scholz (SPD, FDP, Grüne) an dem schon vor Jahrzehnten eingeleiteten deutschen Atomausstieg fest, die letzten drei Kernkraftwerke gingen im April vom Netz. Deshalb seien die Strompreise höher als nötig, kritisierte die Ökonomin Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
In der Ampel herrscht Uneinigkeit
Die Opposition wirft der «Ampel» vor, nicht genügend gegen die Misere zu unternehmen. CDU-Chef Friedrich Merz, als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugleich Oppositionsführer, warnte vor der Gefahr eines wirtschaftlichen Abstiegs. «Deutschland verliert an Wettbewerbsfähigkeit», sagte Merz der Deutschen Presse-Agentur. Man erlebe «einen schleichenden Prozess der Deindustrialisierung unseres Landes», der möglicherweise nicht mehr umkehrbar sei.
Doch innerhalb der «Ampel» ist man sich nicht einig über die richtige Strategie. Neuer Streit bahnt sich an zwischen Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und dem FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner. Habeck will einen mit staatlichen Milliarden subventionierten Industriestrompreis einführen und wird darin von den Gewerkschaften unterstützt. Die Liberalen lehnen das ab.
Schafft Scholz es, den «kranken Mann» zu heilen?
Lindner will stattdessen die Wirtschaft mit einem Steuerpaket um jährlich rund sechs Milliarden Euro entlasten. Sein Haus arbeitet an einem «Wachstumschancengesetz». Einer von dessen Kernpunkten soll eine Prämie für Investitionen in den Klimaschutz sein. Grünen-Chefin Ricarda Lang forderte im «ARD-Sommerinterview» eine «neue Investitionsagenda für Deutschland». Die Grünen-Bundestagsfraktion schlägt ein 5-Punkte-Investitionsprogramm mit besonderem Fokus auf die Baubranche vor.
In Umfragen hat die «Ampel»-Koalition schon lange keine Mehrheit mehr. Ob Scholz es schafft, den «kranken Mann Europas» noch vor der Bundestagswahl 2025 zu heilen, ist die Frage.
Das liberal-konservative Magazin «Cicero» forderte, eine «Agenda 2030» zur Steigerung der Produktivität auszurufen. Es spielte damit auf die «Agenda 2010» des früheren sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (im Amt 1998–2005) an. Schröder hatte 2003 einschneidende Strukturreformen am Arbeitsmarkt eingeleitet, die die deutsche Volkswirtschaft zurück auf Wachstumskurs führten.
Als direkte Folge der unpopulären Einschnitte im sozialen Netz («Hartz IV») verlor der SPD-Politiker aber die Bundestagswahl 2005. Es folgten 16 CDU-Jahre im Kanzleramt unter Angela Merkel. (SDA)