Heute Donnerstag vor zehn Jahren geschah das Unfassbare: Der damals 32-jährige Anders Breivik stürmte als Polizist verkleidet die norwegische Insel Utøya und erschoss 69 Jugendliche und Erwachsene. Sie waren Angehörige des Sommerlagers der sozialdemokratischen Jugendorganisation, er ein verblendeter Neonazi, der seine Wut über den Multikulturalismus auslassen wollte.
In Norwegen finden heute Gedenkveranstaltungen statt. «Der Terror des 22. Juli war ein Angriff auf unsere Demokratie», sagte Ministerpräsidentin Erna Solberg (60) auf einer ersten Zeremonie am Morgen im Osloer Regierungsviertel, wo die Anschläge des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 ihren Anfang genommen hatten.
Man dürfe niemals akzeptieren, dass jemand zur Gewalt greife, um Andersdenkende aufzuhalten. Im Anschluss wurden die Namen aller 77 Todesopfer der Angriffe verlesen.
Das hinterhältige Attentat
Um von seinem Attentat auf der Insel abzulenken, hatte Breivik am 22. Juli 2011 zuvor um 15.25 Uhr im Osloer Regierungsviertel eine selbst gebastelte, fast tonnenschwere Bombe aus Ammoniumnitrat und Dieselöl gezündet. Durch die Detonation starben acht Menschen.
Anschliessend fuhr er zum 30 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt gelegenen See Tyrifjord und setzte in Schutzweste zur Insel über, wo sich 560 Menschen aufhielten. Seine Ausrüstung: ein halbautomatisches Gewehr und eine Pistole.
Er gab den Jugendlichen an, sie über den Anschlag in Oslo informieren zu wollen. Darauf begann er, hemmungslos um sich zu schiessen. Es fielen über 1000 Schüsse. Das Massaker dauerte 75 Minuten, bis er sich widerstandslos einer Anti-Terror-Einheit ergab.
Breivik wurde wegen Mordes an 77 Menschen zu 21 Jahren Haft mit anschliessender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er sitzt heute im Hochsicherheitsgefängnis von Skien und nennt sich Fjotolf Hansen. Reue zeigt er keine: Bei weiteren Prozessen hob er den rechten Arm demonstrativ zum Nazi-Gruss.
Die verpassten Lehren
Zehn Jahre nach dem Attentat erhalten Überlebende Hassbotschaften und sogar Morddrohungen. Der Grund: Den Sozialdemokraten wird vorgeworfen, aus dem Attentat für die Wahlen im September politisch Profit schlagen zu wollen.
Die norwegische Friedensforscherin Liv Törres (60) kritisiert, dass ihr Heimatland nicht die richtigen Lehren aus den Anschlägen gezogen hat. «Wir haben nicht über die Werte in unserer Gesellschaft gesprochen. Wir haben nicht darüber gesprochen, wie wir Rechtsextremismus langfristig stoppen wollen. Wir waren als Gesellschaft eigentlich so offen und tolerant, dass wir einfach alles akzeptiert haben.»
Der Sozialdemokratische Jugendbund hat eine neue Untersuchungskommission gefordert. Sie soll klären, ob die norwegische Politik seit dem Attentat genug unternommen habe, um aufkeimenden Rechtsextremismus rechtzeitig zu erkennen und zu bekämpfen.
Der Streit um die Gedenkstätte
Norwegen tut sich schwer mit der Verarbeitung. Es gibt heftige Diskussionen darüber, ob und welches Mahnmal errichtet werden soll. Der schwedische Landschaftskünstler Jonas Dahlberg (51) wollte eine dreieinhalb Meter breite Schneise als «Wunde» in eine benachbarte Landzunge schneiden. Das Projekt wurde verworfen, weil es zu «laut» an das Attentat erinnert hätte.
Auch eine Gedenkstätte mit 77 je drei Meter hohen Bronzesäulen auf der Insel selber wurde von Nachbarn torpediert. Sie befürchteten, dass Touristenströme das ruhige Inselleben stören könnten. Ein Gericht hat ihre Klage im vergangenen Jahr abgewiesen. Bis zum Jahrestag konnte das Denkmal aber zur grossen Enttäuschung der Hinterbliebenen nicht fertiggestellt werden.
Einzig ein «Zaunhaus» wurde erstellt, ein Gebäude mit 495 Holzlatten für alle Überlebenden. Es dient Erinnerung und zugleich Lernort.
Das Klagen der Überlebenden
Astrid Eide Hoem: Die damals 16-Jährige versteckte sich hinter einer Klippe am Wasser und sandte ihrer Mutter das vermeintlich letzte SMS: «Ich liebe dich über alles auf Erden. Ruf mich nicht an. Du bist die beste Mutter der Welt.» Sie entkam. In den folgenden zwei Wochen wusste sie nicht, an welcher Beerdigung sie teilnehmen sollte, weil es so viele Tote gegeben hatte.
Heute ist Astrid Eide Hoem die Chefin der sozialdemokratischen Jugendorganisation (AUF), die das traditionelle Sommerlager veranstaltet. Sie sagt: «Wir haben es nicht geschafft, eine Debatte darüber zu führen, wie junge weisse Männer, die wie wir in Norwegen aufwachsen, die gleichen Schulen besuchen und in den gleichen Quartieren leben, so extreme Ansichten entwickeln können, dass sie das Gefühl haben, sie könnten dafür töten.»
Elin L’Estrange: Sie ist Breivik entkommen, weil sie ins Wasser sprang und von der Insel wegschwamm. Nachdem es in Norwegen und andern Orten wie in den USA, Deutschland und Neuseeland weitere von Breivik inspirierte Anschläge gegeben hatte, sagte sie: «Dass es Menschen gibt, die immer noch Breiviks Ideen teilen, zeigt, dass wir es versäumt haben, mit dem politischen Aspekt des Anschlags umzugehen.»
Kamzy Gunaratnam: Die heute 33-jährige Vizebürgermeisterin von Oslo rettete sich ebenfalls mit einem Sprung ins Wasser und wurde von einem Boot aufgenommen. Vor einem Jahr hatte sie einen weiteren Schock, als ihr Breivik aus dem Gefängnis einen 22 Seiten dicken Brief schickte. Im Brief behauptete der Mörder, dass er sich vom Rechtsextremismus ab- und dem demokratischen Rechtspopulismus zugewandt habe. Und er bat um bessere Haftbedingungen und eine Begnadigung nach der Höchststrafe von 21 Jahren.
Sie ärgert sich darüber, wie die Norweger mit dem Jahrestag des Attentats umgehen. «Sie schicken mir Herzchen auf Facebook», sagt sie im «Spiegel». Gunaratnam: «Aber ich brauche keine verdammten Herzchen in meiner Inbox auf Facebook. Ich brauche Leute, die etwas gegen Rassismus tun, gegen Hass.»