Eine Bilanz des Schreckens. So wird das neue Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising auch genannt. Die in der Schweiz lebende Theologin Jacqueline Straub (31) ist erschüttert.
«Es ist wieder ein Stich ins Herz», sagt sie zu Blick. Es erschüttere sie jedes Mal wieder, wie die katholische Kirche mit Opfern sexueller Gewalt umgehe. Sie kritisiert den ehemaligen Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger (94), der durch das Gutachten schwer belastet wird. «Seit zwölf Jahren wird Aufklärung versprochen, und dann behauptet Ratzinger, er habe nichts gewusst. Und wir reden hier ja nur von den Jahren, in denen er in der Diözese München-Freising tätig war.»
«Ganze Wucht des Missbrauchsskandals»
2000 Seiten umfasst das Schock-Gutachten. Die Dimension ist gewaltig: Mindestens 497 Kinder und Jugendliche sind laut der am Donnerstag vorgestellten Studie zwischen 1945 und 2019 in dem katholischen Bistum von Priestern, Diakonen oder anderen Mitarbeitern der Kirche sexuell missbraucht worden. Mindestens 235 mutmassliche Täter gab es laut der Anwaltskanzlei, darunter 173 Priester.
Hohe Wellen schlägt ein prominenter Name in den Akten: Der spätere Papst Benedikt XVI. habe in seiner Zeit als Münchner Erzbischof und Kardinal Joseph Ratzinger Missbrauchstäter «mit hoher Wahrscheinlichkeit» wissentlich in der Seelsorge eingesetzt.
«Dass auch ein ehemaliger Papst belastet wird, unterscheidet das Gutachten von allen anderen», sagt Straub. «International spielen die meisten anderen Belasteten nicht so eine Rolle. Das Münchner Gutachten zeigt die ganze Wucht des Missbrauchsskandals auf.»
Trotz allem will Straub nicht austreten
Die Enthüllungen hätten sie dennoch nicht überrascht, sagt die Kirchenkennerin. «Wenn man ein bisschen Einblick hat, weiss man, dass alle Kardinäle, die jetzt an der Macht sind, irgendwas gewusst haben müssen.»
Straub kämpft seit Jahren für Reformen in der katholischen Kirche. Sie selbst will Priesterin werden. Und sagt auch nach dem Schock-Gutachten: «Ich werde auf keinen Fall austreten.»
Zwar verstehe sie jeden, der das jetzt tue. «Aber ich bleibe drin, weil ich etwas ändern will.» Nur dann könne sie eine starke Stimme für tiefgreifende und baldige Reformen sein. Und dass es diese dringend braucht, dafür ist das Münchner Gutachten ein weiterer Beweis.