Von Mykolajiw entlang der ukrainischen Küste über die eroberte Seehafenstadt in Cherson bis hin zur belagerten Stadt Mariupol in der Oblast Donezk – die russischen Vorstösse im Süden der Ukraine stehen in starkem Kontrast zu den Schwierigkeiten, die Moskau im Norden und Nordosten des Landes hat.
Insbesondere die Hauptstadt Kiew macht den russischen Truppen zu schaffen. Der Widerstand ist gross. Putin will deshalb um jeden Preis die Stadt einnehmen. Auch der internationale und ukrainische Fokus liegt in grossen Teilen auf Kiew.
Dabei ist die Hauptstadt gar nicht so entscheidend. Die Russen sind im Süden auf dem Vormarsch. Und gerade das könnte der Ukraine das Genick brechen. Sollte Wladimir Putin (69) den Süden erobern, hätte dies massive Auswirkungen das Land. Der Präsident könnte nicht nur einen verheerenden wirtschaftlichen Druck auf die Ukraine ausüben, sondern auch die westlichen Hilfsströme einschränken und die Integrität des Landes aus drei grossen geografischen Richtungen bedrohen. Und bei künftigen Friedensverhandlungen wahrscheinlich südliche Gebiete für sich beanspruchen, schätzt «The Guardian» die Lage ein.
Südukraine für russische Truppen «voller operativer Erfolg»
Der US-amerikanische Thinktank «Institute for the Study of War» zeichnet ebenfalls ein besorgniserregendes Bild der aktuellen Lage in der Südukraine. «Russische Truppen versuchen, Mykolajiw zu umgehen und den südlichen Bug flussaufwärts zu überqueren, um so einen Vorstoss auf Odessa zu ermöglichen. Dieser soll mit einem geplanten amphibischen Angriff auf die Hafenstadt kombiniert werden». Wenn dies geschehen würde, dann wäre der wichtigste Hafen der Ukraine, Odessa, sowohl auf dem Land- als auch auf dem Seeweg vom Rest des Landes abgeschnitten.
Der pensionierte australische General Mick Ryan beschreibt die Wichtigkeit der russischen Fortschritte in der Südukraine auf Twitter. «Der südliche Kriegsschauplatz ist ein wesentliches Element des gesamten russischen Kriegsplans. Er umfasst die 13 Seehäfen der Ukraine, die 2021 über 150 Millionen Tonnen Fracht exportiert haben», erklärt Ryan. Dies entspreche 60 Prozent der Exporte und 50 Prozent der Importe der Ukraine.
«Während sich der Krieg im Norden und Osten der Ukraine zu einem langsam voranschreitenden Zermürbungskrieg entwickelt hat, war der Krieg im Süden für die eindringenden russischen Streitkräfte voller operativer Erfolge.»
Um die Siegesreihe in der Südukraine zu erklären, führt er einige Faktoren auf. Zu diesen gehören «eine erhebliche Überlegenheit der russischen Bodentruppen im Süden», im Vergleich zu den ukrainischen Streitkräften, eine überforderte ukrainische Verteidigung im ganzen Land und die Tatsache, dass die russischen Truppen im Süden einen logistischen Vorteil haben, da sie ihre Truppen vom eigenen Stützpunkt in der Region Rostow-Krasnodar über die Grenze einschleusen und versorgen können.
Und auch ein weiterer Aspekt spielt beim russischen Erfolg in der Südukraine eine grosse Rolle: «Die Verteidigung von Kiew ist die strategische Hauptanstrengung der Ukraine. Es ist ihre Hauptstadt und hat viel Bedeutung», erklärt Ryan. «Schliesslich», fügt er hinzu, «und das ist reine Spekulation, scheint die russische Führung und die Planung der Aktion im Süden dem Norden überlegen zu sein».
Kriegssituation im Norden bleibt komplex
Am beunruhigendsten für die Ukraine ist wohl die Frage, was die Kontrolle über den Süden für den Krieg in anderen Teilen des Landes bedeuten würde. Es wird befürchtet, dass sich die russischen Streitkräfte mit den südlich von Charkiw operierenden Russen zusammenschliessen oder schliesslich nach Norden in Richtung Dnipro, der strategisch wichtigen Stadt am Dnjepr, ausbrechen könnten.
Im Norden blieb die russische Offensive komplexer. Während einige Analysten und westliche Nachrichtendienste den russischen Vormarsch im Norden als «ins Stocken geraten» bezeichnet haben, gibt es seit dem Wochenende auch Hinweise auf Vorbereitungen für einen erneuten Angriff auf Kiew und eine Umgruppierung der russischen Streitkräfte um die Hauptstadt herum, einschliesslich der bisher von den ukrainischen Streitkräften abgewehrten Versuche, aus Richtung Sumy nach Westen auf Kiew vorzustossen.
Die russischen Streitkräfte haben auch eine Reihe wichtiger Logistikzentren und ein Luftverteidigungszentrum getroffen, die die Verteidigung Kiews unterstützen könnten, darunter den Luftwaffenstützpunkt Winnyzja, der mit acht Marschflugkörpern beschossen wurde, sowie eine Reihe von Treibstofflagern.
In den Aussenbezirken von Kiew wie Irpin, in deren Nähe sich die grösste Konzentration russischer Streitkräfte befindet, mussten die Bewohner unter einem ständigen Granaten- und Raketenhagel fliehen. «Wir können nicht einmal die Leichen einsammeln, weil der Beschuss mit schweren Waffen weder Tag noch Nacht aufhört», sagte der Bürgermeister Anatol Fedoruk, wie der «Guardian» berichtet. Die Situation sei unvorstellbar.
«Hunde reissen die Leichen auf den Strassen der Stadt auseinander. Es ist ein Alptraum. Das Problem ist, dass auf einen ukrainischen Soldaten zehn russische Soldaten und auf einen ukrainischen Panzer 50 russische Panzer kommen», sagte er in einem Interview mit ABC News. Er wies jedoch darauf hin, dass sich die Kluft zwischen den Kräften verringere und dass die russischen Streitkräfte, selbst wenn sie «in alle unsere Städte kommen», auf Gegenwind stossen würden.