Kiewer Regierungsangaben zufolge haben russische Raketenangriffe rund die Hälfte der ukrainischen Stromversorgung zerstört. Dies, während der Winter einzieht. Die Temperaturen sind unter den Gefrierpunkt gefallen. Diese Woche fiel erster Schnee.
Millionen Menschen leben in Dunkelheit und Eiseskälte. Wegen des russischen «Energieterrors», so Präsident Wolodimir Selenski (44), sind sie ohne Strom und ohne Heizung. Für viele Menschen geht es ums Überleben, warnt jetzt der Chef des grössten privaten ukrainischen Stromversorgers. Er ruft Menschen zur Flucht ins Ausland auf. Sonst werde das Land den Winter nicht überstehen.
«Gehen Sie, wenn Sie können»
Maxim Timschenko ist CEO des ukrainischen Stromkonzerns Dtek. Die gezielten russischen Angriffe hätten 50 Prozent der Strominfrastruktur der Ukraine zerstört, warnte Timschenko am Samstag im Gespräch mit der BBC – und bestätigt damit die am Freitag von Präsident Selenski genannte Zahl.
Die Bevölkerung könne nicht mehr ausreichend mit Wärme und Strom versorgt werden, um den Winter zu überleben, sagt Timschenko. Er ruft die Zivilbevölkerung dazu auf, das Land in diesem Winter zu verlassen. Nur so könne die Ukraine die Energiekrise bewältigen.
Jeder, der es sich leisten könne, solle das Land für ein paar Monate verlassen. Dann könnten die Energielieferungen dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten benötigt werden: bei Spitälern, wichtigen Regierungs- und Kommandostellen, im Zugsverkehr. «Wenn Sie einen alternativen Ort finden, an dem Sie für weitere drei oder vier Monate bleiben können, ist das sehr hilfreich für das System», appelliert Timschenko an die Bevölkerung. Wer nicht fliehen könne, solle Strom sparen – Haushaltsgeräte wie Öfen und Waschmaschinen weniger benutzen.
Lage werde «immer schlimmer»
«Die Situation wird immer schlimmer», so Timschenko. «Leider haben wir nach jedem Angriff immer weniger zuverlässige und stabile Energiesysteme.» Man könne einen Beitrag für andere Menschen leisten, wenn man das Land verlasse. So gehöre die Stromversorgung von Spitälern gewährleistet, um verletzte Soldaten zu versorgen.
Inzwischen kommt es in Ballungsgebieten wie Kiew und Odessa zu Notabschaltungen von Strom. Die Behörden haben zudem sogenannte «Unbesiegbarkeits-Punkte» eingerichtet: Notstellen, wo sich Menschen aufwärmen, etwas Warmes essen, heissen Tee trinken und ihre Mobiltelefone aufladen können.
Neue Flüchtlingswelle befürchtet
Anfangs Woche hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (55) erklärt, die Angriffe auf das ukrainische Stromnetz seien eine «Folge» der Weigerung der Ukraine, mit Russland zu verhandeln. «Früher waren die Russen Kollegen», so Timschenko. «Jetzt sind sie Feinde.»
Timschenkos Aufforderung an Mitbürger, das Land vorübergehend zu verlassen, folgt einer ähnlichen Bitte von Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (51) Anfang Monat. (kes)