Demonstranten setzen Polizeiautos in Brand
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Ausschreitungen in Frankreich:Demonstranten setzen Polizeiautos in Brand

Streiks, Brände, Blockaden
Darum kennen die Franzosen kein Pardon

Seit Wochen gehen in Frankreich Millionen auf die Strasse. Die Bilanz: Über 1000 verletzte Einsatzkräfte und 2.500 Brandstiftungen, sogar eine Autobahn wurde zugemauert. Warum die Franzosen so heftig protestieren, erklärt Konfliktforscher Johannes Maria Becker (70).
Publiziert: 24.04.2023 um 19:50 Uhr
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Der Widerstand gegen die von Emmanuel Macron (45) per Dekret durchgedrückte Rentenreform hält an. Am 20. April ist Grossdemo in Paris.
Foto: imago/Le Pictorium
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Der Widerstand gegen die von Emmanuel Macron (45) per Dekret durchgedrückte Rentenreform hält an. Am 20. April ist Grossdemo in Paris.
Foto: imago/Le Pictorium
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Ob höhere Kraftstoffpreise, Mindestlohn oder wie aktuell Rentenreform und Klimaschutz – wenn in Frankreich der Volkszorn hochkocht, dann folgen stets die gleichen Bilder der Gewalt: Furiose Menschenmassen ziehen mit Fackeln durch Innenstädte. Sie errichten Blockaden an Hauptverkehrsadern, vor Flugplätzen und Bahnhöfen.

Mülltonnen und Reifen brennen. Manchmal stehen ganze Autos in Flammen. Schaufenster werden eingeschlagen, Einsatzkräfte angegriffen, in öffentliche und private Gebäude eingebrochen. So stürmten Demonstranten in Paris das Gebäude des Börsenbetreibers Euronext und das Hauptquartier von Louis-Vuitton. Angestellte drangen in Lyon gewaltsam in die Büros der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF ein. In Rennes wurde gar eine Polizeiwache besetzt und angezündet.

Klimaaktivisten mauern Autobahn zu

Während Klimaaktivisten in der Schweiz ihre Hände mit Sekundenkleber auf den Asphalt zementieren, um beispielsweise den Zürcher Berufsverkehr zu stören, ziehen ihre französischen Gesinnungsgenossen auf der A69 im Südwesten des Landes gleich eine schulterhohe Mauer aus Backsteinen hoch. Grund: Protest gegen den geplanten Bau eines neuen Autobahnstücks zwischen Toulouse und Castres.

Seit Mitte März kommt es immer wieder zu Ausschreitungen in Paris und anderen Städten. Die Proteste richten gegen die von Präsident Emmanuel Macron (45) per Dekret durchgedrückte Rentenreform. Danach sollen die Franzosen nicht mehr mit 62, sondern erst mit 64 in den Ruhestand gehen dürfen. Nicht nur wenige Militante, sondern Millionen folgten dem Aufruf der acht grossen Gewerkschaften zum Widerstand. Da marschierten angehende Pensionäre neben Studenten, Arbeiter neben Hausfrauen.

Nach drei Wochen heftiger Proteste leckt sich Frankreich die Wunden: Weit über 1000 Polizisten und Feuerwehrleute wurden verletzt, 2500 Brände gelegt, über 300 öffentliche Gebäude beschädigt.

«Liberté Ègalité Fraternité» gelten noch heute

Auch andere Regierungen haben mit Massendemos zu kämpfen. Doch in kaum einem anderen Land sind Proteste und Streiks derart häufig, vehement und hartnäckig wie in Frankreich. So ergab beispielsweise eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), dass in den Jahren 2007 bis 2016 auf 1000 französische ArbeitnehmerInnen durchschnittlich 123 Streiktage pro Jahr kamen. In der Schweiz waren es zwei Tage.

Für den deutschen Politikwissenschaftler Johannes Maria Becker (70) liegt die Protestkultur in der kulturellen DNA Frankreichs. «Die französische Sicht auf den Widerstand basiert auf der revolutionären Geschichte des Landes», erklärt der Konfliktforscher an der Universität Marburg gegenüber Blick.

Denn mit Aufständen hat die Bevölkerung wichtige Erfolge erreicht. Becker: «Man feiert dort Revolutionen. Der 14. Juli, der Tag des einstigen Sturms auf die Bastille von 1789, ist in Frankreich der wichtigste Nationalfeiertag.» Einen Grund für die Gewalt sieht der Wissenschaftler auch in der französischen Polizei: «Die Beamten sind nicht auf Deeskalation trainiert wie beispielsweise in Deutschland».

Emmanuel Macron, gegen den sich der Volkszorn richtet, muss sich warm anziehen. Die frisch gewählte Generalsekretärin des französischen Gewerkschaftsbunds Confédération générale du travail (CGT), Sophie Binet (41), kündigt an: «Der 1. Mai wird ein noch nie da gewesener Tag der Mobilisierung sein».


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