Es hatte etwas vom Lockdown: Um Punkt 20.00 Uhr wurde in Frankreich am Montag Lärm gemacht – allerdings gab es keinen Applaus für das Pflegepersonal, sondern Protestlärm mit Kochtöpfen gegen Präsident Emmanuel Macron (45) und seine Rentenreform. Dieser hielt zur selben Zeit eine seiner Krisen-Ansprachen, mit einer kleinen Portion Bedauern und einer grossen Portion Versprechen, was demnächst alles besser laufen solle.
«Niemand – und ich am wenigsten – kann taub bleiben angesichts dieser Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit», sagte Macron. In den Augen vieler Franzosen hatte der Präsident sich in den vergangenen drei Monaten allerdings durchaus taub gestellt.
Macron, der vor einem Jahr noch im Amt bestätigt wurde, steht vor einem gewaltigen Scherbenhaufen. Zwar hat er sein Reformprojekt durchgedrückt, mit dem er sich unter anderem auf EU-Ebene als guter Schüler profilieren wollte, aber die Enttäuschung im Land sitzt tief. Das Bild einer Machtübergabe an die Rechtspopulistin Marine Le Pen (54) 2027 nimmt immer deutlichere Konturen an.
Mehrheit der Franzosen mag Macron nicht
«Sie kommt auf 39 Prozent Zustimmung, das hat es noch nie gegeben», sagt der Meinungsforscher Brice Teinturier (60). «Es ist klar, dass der Rassemblement National am meisten von der Krise profitiert», fügt er hinzu. Dabei habe Le Pen nichts weiter getan, als abzuwarten und sich in ihrer Ablehnung der Reform weniger radikal zu zeigen als die Linkspopulisten.
Macron war angetreten mit dem Versprechen, den Franzosen keinen Grund mehr zu geben, für Extreme zu stimmen – doch bislang hat er das genaue Gegenteil erreicht. Gut 70 Prozent der Franzosen haben derzeit eine schlechte Meinung von ihm. Viele seiner engen Berater und Unterstützer haben sich mittlerweile von ihm abgewandt.
Mit seiner TV-Ansprache wollte Macron versuchen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Er wolle «wieder aufbauen, den Elan der Nation wiederfinden», sagte er im bemühten Tonfall eines Lehrers, der desinteressierte Schüler begeistern möchte.
Die Massnahmen, die er aufzählte, waren in erster Linie mit Blick auf die rechte Wählerschaft formuliert: mehr Gendarme, Kampf gegen illegale Einwanderung, Sozialhilfeempfänger zurück in den Arbeitsmarkt, Sozial- und Steuerbetrug bekämpfen. Macron liess keine Zweifel daran, in welchem Lager er seine Partner künftig suchen wird, um eine Mehrheit zusammenzubekommen.
Macrons «Baustellen»-Rede
Diejenigen, die die Reform ablehnen, haben sich Macrons Rede vermutlich nicht mal angehört. «Ein Grossteil der Bevölkerung ist für ihn gar nicht mehr ansprechbar», sagt Teinturier.
Macron bekräftigte seine Einladung an die Sozialpartner, «von morgen an». Er wolle mit ihnen darüber reden, wie die Arbeitsbedingungen zu verbessern seien, wie die Beschäftigung von Senioren verstärkt werden könne, wie vermieden werden kann, dass sich Menschen in ihrem Beruf aufreiben.
Aber dafür ist es nun vermutlich zu spät. CGT-Gewerkschaftschefin Sophie Binet (41) hatte für den Vorschlag nur ein Achselzucken übrig. «LOL» (übersetzt: ich lache mich kaputt), antwortete sie knapp.
Geradezu pathetisch wurde Macron am Ende seiner etwa zehnminütigen Ansprache: Niemand habe ihm geglaubt, als er versprochen habe, die brandgeschädigte Pariser Kathedrale Notre-Dame innerhalb von fünf Jahren wieder aufzubauen. «Aber das schaffen wir», sagte Macron. «Und genau so soll es auf den grossen Baustellen der Nation sein», rief er in die Kamera. In hundert Tagen, pünktlich zum Nationalfeiertag am 14. Juli, wolle er eine erste Bilanz ziehen.
Wenn der Präsident mit seiner Rentenreform eines erreicht hat, dann ist es die Einheit der bislang zerstrittenen Gewerkschaften. Für den 1. Mai haben sie erstmals wieder gemeinsam zu Protestveranstaltungen aufgerufen. Das war zuletzt 2002 der Fall, als es darum ging, den Einzug des rechtsextremen Jean-Marie Le Pen in den Elysée zu verhindern, der überraschend in die Stichwahl gekommen war. Der 94-Jährige liegt derzeit mit Herzproblemen im Krankenhaus. Seine Tochter Marine Le Pen könnte eines Tages erreichen, was ihr Vater nicht geschafft hat. (AFP)