Am frühen Morgen, kurz bevor das Jahr zu Ende ging, brachte ich meinen Boxsack in den Keller. Das Treppenhaus war verwaist, meine Siedlung wie ausgestorben. Alle hatten sich in die Berge abgesetzt.
Einer der kürzesten Tage des Jahres schien mir die richtige Zeit, vielleicht noch einmal die ganz grossen Fragen auszuloten.
Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?
Ich persönlich kam aus meiner Wohnung, wo mein Boxsack schon länger Staub ansetzte und einen etwas unheimlichen Schatten warf. Für zwei Minuten hatte ich einmal müde auf ihn eingepufft, damit war meine boxerische Laufbahn vorbei. Später klammerten sich meine Kinder kurz daran fest. Später hing das dunkle Ding nur noch hinter der Tür wie ein betrunkener Einbrecher.
Die Altjahrswoche bot sich an, dieses Geburtstagsgeschenk, ein lieb gemeintes Missverständnis, loszuwerden. Im Keller traf ich meinen Nachbarn, den einzigen Menschen weit und breit. Er deutete auf den Sack, lächelte wissend und empfahl mir das Internet.
Weshalb all die Boxsäcke?
Leider gibt es nichts Überflüssigeres als solch ein ledernes Ungetüm. Hunderte – so fand ich heraus – werden auf Onlinebörsen versteigert. Fabrikneue Ware. In allen Varianten. Für ein Butterbrot. Derzeit kommt täglich Nachschub von Leuten wie mir, die nach Weihnachten alte und neue Geschenke aussieben.
Wie sich der Boxsack-Markt so zu entwickeln scheint, muss ich demnächst draufzahlen, damit mir überhaupt jemand diesen 31-Kilo-Ballast abnimmt.
Das alles läuft also suboptimal für mich. Und es stehen Fragen im Raum: Weshalb besorgen sich die Leute dermassen viele Boxsäcke, die sie dann eilig wieder loswerden wollen? Verspüren wir gegen Jahresende das Bedürfnis, uns dringend abzureagieren? Fehlt uns dafür aber der nötige Punch?
Dem alten Jahr den Teufel austreiben
Wenn man einen Sport sucht, der das Gegenteil der helvetischen Wesensart verkörpert, wäre es das Boxen. Man steht halb nackt im Ring, eins gegen eins, mit wenig bis nichts zu verlieren. Muhammad Ali, der Grösste aller Zeiten, besass auch die grösste Klappe aller Zeiten.
Und im berühmtesten Boxfilm aller Zeiten spielt Sylvester Stallone einen Underdog, der auf blutige Rinderhälften einprügelt: Noch weniger schweizerisch ist nur noch «Buzkaschi», ein Reiterspiel aus den Steppen Zentralasiens, bei dem alles erlaubt ist, auch der Einsatz der Reitpeitsche, und bei dem es darum geht, sich im wilden Galopp um einen Ziegenkadaver zu prügeln.
Obwohl: Bei genauerer Betrachtung schlummert durchaus eine robust zulangende Komponente im schweizerischen Volkscharakter. Etwa, wenn es darum geht, dem alten Jahr den Teufel auszutreiben.
Alles läuft parallel
In unserem Land pflegt man zum Beispiel heidnische Bräuche, bei denen es vor allem ums Austeilen geht. Um böse Geister zu vertreiben, drischt man in Schwarzenbur BE leidenschaftlich auf den Altjahrsesel ein (kein echtes Tier, nur kostümierte Unglücksraben). Und die Sonnenwendfeier der Interlakner artete einst in derart unchristliche Schlägereien aus, dass die Behörden die öffentliche Ordnung ihrerseits mit Gewalt wiederherstellen mussten.
Natürlich hat das Internet bisher nicht auf meinen Boxsack reagiert. Vielleicht ist auch einfach zu viel los. Es passieren gerade wieder viele Dinge gleichzeitig. Zwischen Ukraine-Krieg und Energiekrise, zwischen dem Tod von Vivienne Westwood, dem von Pelé und jenem des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Und dann noch diese skurril subtropischen Wintertemperaturen zu Silvester. Ausserdem wechselt Cristiano Ronaldo in die Wüste. Dafür ist Boris Becker zurück. Alles läuft parallel.
Mit diesem Artikel verabschiedet sich Reporter Tobias Marti (37) vom SonntagsBlick. Fast 400 Artikel hat er in den letzten fünf Jahren für den SoBli verfasst, insbesondere Reportagen und Features. Ob im deutschen Chemnitz («Ostdeutschlands Kampf mit Neonazis, Wirtschaftsmisere und Merkels Willkommenskultur»), beim Truckerfestival in Interlaken BE oder beim Besuch der Hotelfachschule («Wo Schnösel zu Gastgebern werden») – immer hat er mit seiner spitzen Feder einen ganz eigenen Ton getroffen. Unvergessen sind Tobias Martis Bericht aus der Küche des Gstaad Palace und sein Text vom April 2020 über die eigene Corona-Erkrankung.
Wir bedanken uns herzlich für sein Engagement und wünschen ihm für die Zukunft nur das Beste!
Gieri Cavelty, Chefredaktor
Mit diesem Artikel verabschiedet sich Reporter Tobias Marti (37) vom SonntagsBlick. Fast 400 Artikel hat er in den letzten fünf Jahren für den SoBli verfasst, insbesondere Reportagen und Features. Ob im deutschen Chemnitz («Ostdeutschlands Kampf mit Neonazis, Wirtschaftsmisere und Merkels Willkommenskultur»), beim Truckerfestival in Interlaken BE oder beim Besuch der Hotelfachschule («Wo Schnösel zu Gastgebern werden») – immer hat er mit seiner spitzen Feder einen ganz eigenen Ton getroffen. Unvergessen sind Tobias Martis Bericht aus der Küche des Gstaad Palace und sein Text vom April 2020 über die eigene Corona-Erkrankung.
Wir bedanken uns herzlich für sein Engagement und wünschen ihm für die Zukunft nur das Beste!
Gieri Cavelty, Chefredaktor
Kaum habe ich diesen Satz geschrieben, erklärt Vitali Klitschko zwischen Trümmern in der Ukraine: «Im Leben gibt es nichts umsonst. Man muss kämpfen.» Es ist die Jahresbilanz des Bürgermeisters von Kiew, der seine Stadt seit zehn Monaten durch den Krieg lenkt.
Wir leben in einer gefährlichen, hektischen, unübersichtlichen Welt. Man braucht nicht mal zu boxen.