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Schutz vor Dürre und Terror?Einblick in ein Flüchtlingscamp in Somalia

Reise ins korrupteste Land auf Erden
«Sie setzten mich auf die Todesliste»

Die schlimmste Dürre seit 40 Jahren und Millionen hungriger Kinder: Somalia steht mal wieder am Abgrund. Jetzt kommt der El-Niño-Regen und spült wohl alles weg – ausser die mordenden Dschihadisten, die die Menschen zu Hunderttausenden aus den Dörfern vertreiben.
Publiziert: 01.10.2023 um 10:11 Uhr
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Aktualisiert: 02.10.2023 um 11:50 Uhr
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Kinsi (25) hat die Hoffnung für ihre Tochter Ayan (3) aufgegeben.
Foto: Samuel Schumacher
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Kein Land auf dem afrikanischen Kontinent hat eine längere Küste, kaum eines fischreichere Gewässer, keines liegt strategisch so perfekt wie die Nation am Horn von Afrika, wo jedes Schiff auf dem Weg von Asien nach Europa vorbeifahren muss: Somalia hatte gute Karten. Seine Traumstrände hätten zum Magneten für europäische Touristen werden können, seine Hauptstadt Mogadischu zum Juwel am Indischen Ozean.

Doch es kam anders.

Somalia ist das korrupteste Land auf Erden. Die Hälfte des 17-Millionen-Volkes würde ohne Hilfe aus dem Ausland nicht überleben. Mogadischu gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt.

Nur Allah kann Ayan noch retten

1960 machten sich die italienischen und britischen Kolonialherren aus dem Staub. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg und kriminelle Regenten haben das Land danach Stück für Stück zugrunde gerichtet. Die islamistische Terrormiliz Al Shabaab kontrolliert heute weite Teile im Süden. Der Norden (Somaliland) will sich abspalten. Zwei Drittel der Menschen können weder lesen noch schreiben. Und jährlich kommen hier 700'000 Babys zur Welt, von denen jedes zehnte seinen fünften Geburtstag nicht erlebt.

Auch Ayan (3) wird vor ihrem fünften Geburtstag sterben, wenn sie nicht bald etwas isst. Das versucht der Arzt in der Nothilfestation des Belkhier-Flüchtlingslagers im Norden Mogadischus Ayans Mutter klarzumachen. Ayan klammert sich mit ihren spindeldürren Fingern ans orangefarbene Gewand ihrer Mutter.

6,5 Kilo wiegt das Mädchen noch. Stehen, sitzen, geschweige denn spielen: Dafür hat es die Kraft nicht mehr. Die Fliegen saugen an Ayans verflarzten Augenrändern. Sie regt sich nicht. Ihre Mutter Kinsi (25) verwirft nur die Hände: «Ihr versteht mich nicht. Das Kind ist krank. Nur Allah kann es retten.»

Kinsi stolpert aus der Wellblechhütte hinaus in die Mittagshitze. Der Geruch von verbranntem Plastik liegt in der Luft. Hunderte Mütter und ein einziger Vater mit hungrigen Kindern kauern vor der Hütte. Sie hoffen auf Rat oder ein paar Päckchen Notfallnahrung, schauen stumm über das staubige Feld hinüber zur Zeltstadt. Dort flattern die Stofffetzen der fast 10'000 Bulos, der traditionellen somalischen Zelte: nichts als ein paar Äste mit Stoff- und Plastikfetzen überspannt.

«Die Al Shabaab setzte mich auf die Todesliste»

Mitten im farbigen Fetzenmeer steht Keyse (60) und schneidet Äste für ein Bulo zurecht, für sich und die vier Grosskinder. «Ich wollte der Al Shabaab keine Steuern zahlen», erzählt Keyse. «Sie setzten mich auf die Todesliste. Alle meine Tiere sind verhungert. Ich musste fliehen.»

Zwei Hühner stolzieren vorbei. Ansonsten: Stillstand im Zeltmeer. Apathisch liegen die Menschen in ihren Stoffhöhlen. «Ich habe immer noch Angst», sagt Keyse. Und immer noch nichts zu essen. Aber wenigstens bald ein flatterndes Dach über dem Kopf. Vor Islamisten und Hunger schützt es nicht. Aber vor der brennenden Sonne.

Somalia ist in weiten Teilen unbewohnbar geworden. Seit sechs Jahren hat es nicht mehr richtig geregnet. Die Al-Shabaab-Milizen hacken im Hinterland den Bauern die Hände ab, wenn sie ihnen nicht drei Viertel ihrer mageren Ernte abgeben. 90 Prozent seines Getreides hatte das Land zuletzt aus der Ukraine und Russland importieren müssen. Sie sind weg, ersatzlos gestrichen.

Viele, die es sich leisten können, machen sich auf den gefährlichen Weg nach Europa. 2671 Somalier befinden sich derzeit in der Schweiz im Asylprozess: Rang fünf der hiesigen Asylstatistik. Jene, die sich die Schlepper nicht leisten können, landen hier in den Zeltlagern.

130'000 Verzweifelte sind seit Anfang Jahr vor dem Terror und dem Hunger an den Rand der kaputten Hauptstadt geflohen. Hier kauern sie nun wie durstige Tiere um ein trockenes Wasserloch, in stetiger Angst vor den wilden Kreaturen, vor denen sie geflohen sind.

Die Spendenkassen bleiben leer

«Tausende Kinder werden sterben», sagt Mohamud Hassan, Chef der Organisation Save the Children in Somalia. Das Wetterphänomen El Niño dürfte zwar bald Regen bringen. Doch die Böden sind zu trocken, um Wasser aufzunehmen. Die Überschwemmungen werden alles wegschwemmen im Hinterland – nur nicht die mordenden Terroristenbanden. «Somalia gehört zu den am schwersten betroffenen Ländern des Klimawandels, obwohl wir weniger als 0,01 Prozent zum CO₂-Ausstoss beitragen», sagt Hassan.

Gut vier Millionen Menschen unterstützt Save the Children in Somalia mit dem Allernötigsten. Das ist ein Anfang. Aber es reicht nicht. Die Uno sagt, 2,4 Milliarden Franken wären alleine dieses Jahr nötig, um das Land vor dem Schlimmsten zu bewahren. Die Spendenkassen aber sind zu zwei Dritteln leer.

Für die Weydow-Klinik, eine der vielen Wellblech-Notfallstationen in Mogadischu, bedeutet das das Aus. Ende Jahr muss sie schliessen. Noch aber herrscht hier Hochbetrieb. In einem grell erleuchteten Container-Raum gebären bis zu vier Frauen gleichzeitig, Schulter an Schulter, Becken an Becken. Ausnahmslos alle sind beschnitten. Das verursacht zusätzliche Schmerzen und oft Probleme. Rund jede 100. Somalierin stirbt bei der Geburt. Sechs Stunden dürfen die Mütter nach der Niederkunft bleiben. Dann müssen sie fort.

Manchmal kommen sie am nächsten Tag wieder, weil sie schlicht nicht wissen, wohin. So wie Faysa (34), Mutter von sieben Kindern – und blind. Sie tastet nach dem kleinen Ahmed, der unter ihrem fleckigen Gewand schläft. Die Geburtstage ihrer Kinder? Kennt sie nicht. «Jedes Jahr eines, in einem Jahr mal zwei», sagt Faysa. Verhütung ist ein schwieriges Thema im streng muslimischen Somalia. Nachwuchs gilt als Segen. 6,1 Kinder haben somalische Frauen im Durchschnitt. Und sowieso: Die Pille stillt den Hunger nicht.

Zwölfmal so viele Babys wie vor drei Jahren

Im Banadir Hospital, einem der wenigen öffentlichen Spitäler in der somalischen Hauptstadt, kommen jeden Monat 900 Babys zur Welt, zwölfmal so viele wie noch vor drei Jahren. Das Spital läuft am absoluten Limit. Die Hälfte der Ärztinnen und Pfleger arbeitet gratis. Die neu gebaute Kinderabteilung mit 40 Betten kann nicht in Betrieb genommen werden, weil das Material und das Personal fehlen. «Wir müssen hart triagieren», sagt Doktor Hafsa Mohamed Hassan (30), die Leiterin der Intensivstation für unterernährte Kinder. «Neugeborene, die ohne Sauerstoff nicht überleben können, nehmen wir auf. Alle anderen schicken wir weg.»

300 Kinder landen jeden Monat auf der Abteilung. Verhüllte Frauen knien an den Betten ihrer abgemagerten Kinder. Leere Blicke, stickige Luft. Doktor Hafsa versucht, Zuversicht zu versprühen. «Die meisten überleben», sagt die junge Ärztin. Aber nicht alle.

Ob Zakariye es schafft, weiss Doktor Hafsa noch nicht. Der anderthalbjährige Bub liegt regungslos im Bett 5, eingeschmiert mit einer fettigen Salbe, damit seine Haut nicht austrocknet. Nur der Mund bewegt sich leicht. Ikran (45), seine Grossmutter, neigt sich zu ihm herunter. Doch sie hört nichts. «Früher ist er gekrabbelt, jetzt liegt er nur noch da», sagt sie. Alle paar Sekunden wedelt sie die Fliegen weg. Alle 30 Minuten spritzt sie ihm 18 Milliliter angereicherte Milch über den dünnen Schlauch durch die Nase direkt in den Magen. 4,3 Kilo wiegt Zakariye noch. «Er weint gar nicht mehr», sagt Ikran. Es bräuchte zu viel Kraft.

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