«Wir kämpfen für unser Land und für unsere Freiheit», so eröffnete Wolodimir Selenski (44) seine Videobotschaft am Dienstag vor dem EU-Parlament.
«Gestern wurden 16 Kinder getötet. Und das obwohl Putin nach wie vor behauptet, dass seine Operation nur militärische Stützpunkte trifft», so der ukrainische Präsident. Trotzdem gibt sich Selenski nach wie vor kampfbereit: «Niemand kann uns brechen», verkündet er. Seine Rede bewegt die Abgeordneten sichtlich. Auch der Übersetzer kämpft mit seinen Emotionen – zwischendurch hat er eine zittrige Stimme.
Selenski nutzt seine Ansprache, um die EU-Mitgliedstaaten aufzufordern, die Ukraine in die Europäische Union aufzunehmen.
«Ohne euch steht die Ukraine allein da», so Selenski. Die Ukraine gehöre zu Europa, das habe sich nun gezeigt. Nun solle die EU unter Beweis stellen, dass sie die Ukraine nicht im Stich lasse. «Zeigen Sie, dass Sie Europäer sind, und dann wird das Leben über den Tod siegen, das Licht über die Dunkelheit.»
Selenski, der Nationalheld
Die Rede des ukrainischen Staatspräsidenten unterstrich erneut die Schlüsselrolle, die der Präsident seit Ausbruch des Kriegs eingenommen hat.
Die Rolle des Nationalhelden, der mit Inbrunst für sein Land und die Freiheit seiner Bürger kämpft. Mit bestimmenden und motivierenden Worten wendet er sich an sein Volk, fordert es auf, für die Ukraine zu kämpfen.
Was wäre, wenn der ukrainische Nationalheld von den Russen gefasst oder gar getötet würde? Wie stünde es dann um die Kampfmoral der Ukrainer? Würde sich die Zivilbevölkerung immer noch so mutig und entschlossen geben oder würde das Ende von Selenski auch das Ende des Kriegs bedeuten? ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (32) ist überzeugt, dass die Ukrainer auch ohne Selenski weiterhin Widerstand leisten würden.
«Selenskis Tod oder Verhaftung wäre massiver Schlag»
«Selenski verkörpert den Widerstandsgeist im Land. Sein Tod oder seine Verhaftung wäre ein massiver Schlag für die ukrainische Kampfmoral», sagt Beno Zogg. Trotzdem stehe und falle nicht alles mit ihm: «Die Kampfbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung wird vermutlich bleiben.»
Sofern die benötigte Infrastruktur und die Befehlsketten aufrechterhalten werden können. «Die Logistik, welche die Armee braucht, ist entscheidend. Wenn die notwendige Kampffähigkeit aber noch da ist, dürften die Ukrainer weiter kämpfen.»
Die Kampfmoral der Ukrainer hänge nicht mit Selenskis Person, sondern mit seinen Appellen an die Bevölkerung zusammen. Er appellierte an seine Nation, dass es jetzt ums Überleben dieses Staats und um die Freiheit der Menschen geht. «Dieses Narrativ bleibt», sagt Zogg. «Sie kämpfen für das, wofür Selenski steht und nicht für seine Person selber.»
Der ukrainische Präsident als Trophäe?
Doch welche Szenarien könnten drohen, wenn Selenski von den Russen gefasst würde? «Dann ist natürlich vieles möglich. Er könnte zum Beispiel der Öffentlichkeit als eine Art Trophäe präsentiert werden», so Zogg.
Möglich sei auch, dass die Russen in diesem Falle Selenski dazu drängen würden, auf russische Forderungen einzugehen oder gar die Kapitulation der Ukraine erpressen würden. Im Falle einer Tötung, sähe die Situation anders aus: «Der Schock wäre riesig.» Es käme jedoch auch auf die Umstände drauf an, wie er getötet würde.
Wenn es sich um gezielte Tötung handle, wäre die Situation hochdramatisch. Es könne aber auch sein, dass Selenski bei einem Unfall umkäme. Klar ist: «Stösst Selenski etwas zu, dürfte dies zu noch schärferen Verurteilungen vom Ausland führen.»
«Der Krieg dürfte noch blutiger werden»
Feststeht: Mit dem anfänglich «leichten» Ansatz hat Russland seine Ziele nicht erreicht. Der Plan des Kremls, die Ukraine mit möglichst geringen Kosten zu übernehmen, ist kläglich gescheitert.
Deshalb sei man jetzt auch bereit, die grösseren Geschütze aufzufahren. «Und das passiert jetzt genau. Man kann wirklich von einer Eskalation in der Eskalation sprechen», sagt der Sicherheitsexperte. Mittlerweile sei man zu mehr bereit. Die Folge seien unpräzise Schläge wie Flächen-Bombardements oder Angriffe auf zivile Infrastruktur wie Siedlungen.
Die nächsten Tage seien entscheidend. «Jetzt wird man sehen, wie weit Putin bereit ist, zu gehen. Der Krieg dürfte in den nächsten Tagen noch blutiger werden.» Denn: «Putin ist noch nicht annähernd da, wo er sagen würde: Jetzt ist genug.»