Sicherheitsexperte Ralph D. Thiele sagt, worauf wir uns gefasst machen müssen
«Die Schweiz ist für Islamisten ein Rückzugsraum»

Nach dem Attentat von Solingen warnt Islamismus-Kenner Ralph D. Thiele vor der Rückkehr des Terrorismus in Europa. Seine Forderung: Wir müssen das Problem endlich beim Namen nennen.
Publiziert: 31.08.2024 um 18:32 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2024 um 15:03 Uhr
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Anfang November 2023 sorgten Islamisten in den Strassen der deutschen Stadt Essen für Aufsehen.
Foto: Anadolu via Getty Images

Auf einen Blick

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Guido FelderAusland-Redaktor

Die Hamas in Israel, der IS in Moskau und nun auch ein Einzeltäter im deutschen Solingen: Der islamistische Terrorismus meldet sich zurück. Wie konnte das passieren? Blick sprach mit Ralph D. Thiele* (70), deutscher Sicherheitsexperte und Mitautor des Buchs «Handbuch Politischer Islam in Europa», über die wachsende Bedrohung.

Blick: Herr Thiele, wie konnte es zum Attentat in Solingen kommen?
Ralph D. Thiele:
Fingerzeigen auf vermeintlich Schuldige ist immer problematisch. Dennoch ist der bisherige politische und öffentliche Umgang mit Migration und Islamismus wenig zielführend, sogar ein Stück weit scheinheilig. Öffentliche Diskussionen in Medien und Parlamenten driften mit grosser Regelmässigkeit in Richtung einer Selbstbezichtigung ab.

Wie weit dürfen wir denn mit der Kritik gehen, ohne islamophob zu sein?
Wer Islamismus, dessen Strippenzieher und deren Aktivitäten hinterfragt, landet blitzschnell beim Vorwurf, Islamfeindlichkeit zu schüren. Begriffe wie Islamfeindlichkeit, Islamophobie, antimuslimischer Rassismus sind Kampfbegriffe einer innenpolitischen Diskussion, die Probleme ausblendet und die Diskussion von Lösungen behindert. Daran leiden dann Prävention, die Einführung wirksamer Technologien zum Erfassen und Beobachten Verdächtiger und damit die frühzeitige Aufdeckung geplanter Anschläge.

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Anfang November 2023 sorgten Islamisten in den Strassen der deutschen Stadt Essen für Aufsehen.
Foto: Anadolu via Getty Images

Welche Gefahr geht vom politischen Islam in Europa aus?
Islamismus will die demokratische politische Ordnung so verändern, dass sie nach islamistischen, undemokratischen und antiliberalen Prinzipien neu geordnet wird. Hierzu nutzen seine Akteure ein breites Portfolio – von Gewalt und Terrorismus bis hin zum Marsch durch die Institutionen.

Warum tun wir nicht mehr dagegen?
Oft suchen unsere Regierungen in einem naiven Ansatz den Schulterschluss mit Islamverbänden, die ausgerechnet die Zielsetzungen des politischen Islams umsetzen wollen. Damit leisten sie den Muslimen in Europa, die überwiegend eine massvolle und eine friedliche Auslegung des Islams im Rahmen einer demokratischen Rechtsordnung wünschen, einen Bärendienst.

Was meinen Sie mit «naivem Ansatz»?
Es gibt heute in Deutschland verschiedene Gremien und Initiativen, die sich der Bekämpfung von Islamophobie widmen und Zwangsheiraten, Gewalt im Namen der Ehre und Clan-Kriminalität als antimuslimischen Rassismus diskreditieren. Die Arbeit des einzigen Expertenkreises zur Begegnung von Herausforderungen des «Politischen Islamismus» im Bundesministerium des Innern und für Heimat wurde hingegen eingestellt.

Die Hauptakteure und ihre Strategien

Ralph D. Thiele sagt: «Terroraktionen haben einen Kontext.» In der rauer gewordenen Welt brächten sich staatliche und nicht staatliche Akteure des politischen Islamismus in Stellung, die von den Verwerfungen der Weltordnung profitieren wollten. Das sind laut Thiele die Hauptakteure:

Iran: «Unter den staatlichen Akteuren des politischen Islam beherrscht der Iran wie kein anderer das perfide Spiel über die Bande. Mit einem Netzwerk von Stellvertretern, darunter die Muslimbrüder, deren Tochterorganisation Hamas oder die Hisbollah, gelingt es ihm, nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Westeuropa und weit darüber hinaus Terror und Instabilität zu säen.»

AKP: «Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) steht für die Etablierung einer islamistischen Agenda in der Türkei, engagiert sich aber auch im Ausland. Sie soll verschiedene islamistische Gruppen im Nahen Osten unterstützen, darunter die Muslimbruderschaft und deren Tochterorganisation die Hamas. Der Arm der AKP reicht bis nach Deutschland. Hier nutzt insbesondere die türkische Religionsbehörde Diyanet ihre Möglichkeiten zur Beeinflussung von Mitbürgern mit türkischen Wurzeln.»

Muslimbruderschaft: «Sie ist die bedeutendste transnationale Organisation des politischen Islamismus. Sie verfügt in Europa Grenzen und Regionen überschreitend über ein breites Netzwerk von NGOs, Moscheen, Schulen, Lobbygruppen und anderen Einrichtungen.

Salafisten: «Sie offerieren ein fundamentalistisches, puritanisches und radikales Angebot des Islam. Mit ihrer Sprache der Revolte sind sie attraktiv für junge Menschen und lassen sich zudem vergleichsweise leicht gegen den Westen und dessen Trennung von Staat und Religion in Stellung bringen. In Frankreich haben Islamisten dieses Zuschnitts bereits ganze Stadtviertel übernommen.»

Islamischer Staat: «Der IS erholt sich derzeit von seiner Zerschlagung. Europa ist für ihn eine wichtige Front für Angriffe auf Christen. Seit ein paar Jahren ist der «Islamische Staat – Provinz Khorasan», ein Ableger aus Afghanistan, zunehmend aktiv. Er ist unter anderem verantwortlich für die Anschläge auf eine Konzerthalle in Moskau und auf eine katholische Kirche in Istanbul. Anschlagsversuche in Köln, Wien und weiteren Orten konnten rechtzeitig aufgedeckt werden.»

Ralph D. Thiele sagt: «Terroraktionen haben einen Kontext.» In der rauer gewordenen Welt brächten sich staatliche und nicht staatliche Akteure des politischen Islamismus in Stellung, die von den Verwerfungen der Weltordnung profitieren wollten. Das sind laut Thiele die Hauptakteure:

Iran: «Unter den staatlichen Akteuren des politischen Islam beherrscht der Iran wie kein anderer das perfide Spiel über die Bande. Mit einem Netzwerk von Stellvertretern, darunter die Muslimbrüder, deren Tochterorganisation Hamas oder die Hisbollah, gelingt es ihm, nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Westeuropa und weit darüber hinaus Terror und Instabilität zu säen.»

AKP: «Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) steht für die Etablierung einer islamistischen Agenda in der Türkei, engagiert sich aber auch im Ausland. Sie soll verschiedene islamistische Gruppen im Nahen Osten unterstützen, darunter die Muslimbruderschaft und deren Tochterorganisation die Hamas. Der Arm der AKP reicht bis nach Deutschland. Hier nutzt insbesondere die türkische Religionsbehörde Diyanet ihre Möglichkeiten zur Beeinflussung von Mitbürgern mit türkischen Wurzeln.»

Muslimbruderschaft: «Sie ist die bedeutendste transnationale Organisation des politischen Islamismus. Sie verfügt in Europa Grenzen und Regionen überschreitend über ein breites Netzwerk von NGOs, Moscheen, Schulen, Lobbygruppen und anderen Einrichtungen.

Salafisten: «Sie offerieren ein fundamentalistisches, puritanisches und radikales Angebot des Islam. Mit ihrer Sprache der Revolte sind sie attraktiv für junge Menschen und lassen sich zudem vergleichsweise leicht gegen den Westen und dessen Trennung von Staat und Religion in Stellung bringen. In Frankreich haben Islamisten dieses Zuschnitts bereits ganze Stadtviertel übernommen.»

Islamischer Staat: «Der IS erholt sich derzeit von seiner Zerschlagung. Europa ist für ihn eine wichtige Front für Angriffe auf Christen. Seit ein paar Jahren ist der «Islamische Staat – Provinz Khorasan», ein Ableger aus Afghanistan, zunehmend aktiv. Er ist unter anderem verantwortlich für die Anschläge auf eine Konzerthalle in Moskau und auf eine katholische Kirche in Istanbul. Anschlagsversuche in Köln, Wien und weiteren Orten konnten rechtzeitig aufgedeckt werden.»

Wie werden Islamisten rekrutiert?
Gerade die gewalttätigen islamistischen Gruppen bauen derzeit besonders auf jugendliche «Rekruten». Deren Einsatz beginnt mit Selbstradikalisierung online auf den grossen Plattformen wie zum Beispiel Tiktok oder Instagram. Im Kontext des Islamismus füttern sie die Jugendlichen in einer algorithmischen Spirale mit islamistischer Propaganda. Dort geraten diese dann in Neigungsgruppen, die sich gegenseitig Videos von Anschlägen schicken und sich an der dargestellten Gewalt aufputschen.

Worauf müssen wir uns konkret gefasst machen?
Aus leidvoller Erfahrung müssen wir damit rechnen, dass der abscheuliche Mordzug der Hamas in Israel und der nachfolgende Gaza-Krieg eine Anschlagswelle losgetreten haben, die in drei bis vier Jahren bei uns ihren Höhepunkt erreichen dürfte. Der terroristische «Erfolg» hat in der islamistischen Szene einen riesigen Motivationsschub ausgelöst. Leider vergrössert die Migration den Nährboden für Islamisten.

Angela Merkel sagte: «Der Islam gehört zu Deutschland.» Gehört er tatsächlich zu Deutschland und zu Europa?
Der Islam in Deutschland ist Tatsache. Wir haben in Europa derzeit einen muslimischen Anteil an der Bevölkerung von knapp 5 Prozent. Je nach Szenario könnte er bis 2050 auf rund 14 Prozent wachsen, bei Spitzenreitern wie Schweden oder Deutschland dann möglicherweise auf 30 bzw. 20 Prozent.

Ist der Islam gut für Europa oder nicht?
Einerseits haben muslimische Bevölkerungsanteile ein grösseres Zutrauen und Vertrauen in unsere Regierungen als der statistische Durchschnitt der Bevölkerung. Auf der anderen Seite begünstigen Einwanderung und demografische Veränderungen den Einfluss von Akteuren des politischen Islams in Europa. Diese streben nach mehr Förderung einer fortgesetzten muslimischen Einwanderung nach Europa, mehr Förderung des Wachstums muslimischer Gemeinschaften in Europa und mehr Nutzung dieser Gemeinschaften zur Beeinflussung politischer und sozialer Normen.

Warum gibt es in der Schweiz weniger islamistisch motivierte Anschläge?
Ich fürchte, die Schweiz ist für Islamisten etwas, was Deutschland für sie vor den Anschlägen des 11. September 2001 war: ein Rückzugsraum, in dem man ungestört planen und sich verstecken kann und in dem man auch sein Vermögen bunkern kann. Auf Dauer schützt all dies nicht vor Anschlägen, wie wir in Deutschland sehen. Vorsicht, Verbesserung der Lageübersicht und Schärfung der staatlichen Instrumente sind auch für die Schweiz ratsam.

Wie muss sich Europa schützen?
Drei Vektoren sind von Bedeutung. Bei den Gefahren von aussen sind Beiträge zur Stabilisierung in labilen Regionen sowie die Verwehrung des Zugangs ins eigene Land eine hilfreiche Vorbeugung. Gefahren im Innern kann man durch bessere Integration, konsequentes Durchgreifen und weniger Naivität im Umgang mit politischem Islamismus vorbeugen. Und bei den Gefahren im Cyberraum müssen wir in der Regulierung sowie Bekämpfung besser werden. Eine in Deutschland und andern Ländern weit verbreitete Technologieskepsis, häufig auch Arglosigkeit, hilft Islamisten bei ihren dunklen Aktivitäten.

* Ralph D. Thiele (70), ist Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von EuroDefense Deutschland. Er ist mit Thomas Jäger Co-Autor des Buchs «Handbuch Politischer Islam in Europa» – Activities, Means, and Strategies from Salafists to the Muslim Brotherhood and Beyond».

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