Blick-Reporter Scheiber auf den Spuren der radikalen Gläubigen
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Nach Islamisten-Demo:Blick-Reporter Scheiber auf den Spuren der radikalen Gläubigen

Muslime fordern in Essen ein Kalifat – Blick vor Ort
Auf den Spuren der deutschen Islamisten

In der deutschen Stadt Essen fordern Islamisten ein Kalifat. Blick machte sich auf Spurensuche der Extremisten, die für Empörung und Schrecken sorgen. Die Behörden? Sie sind praktisch machtlos.
Publiziert: 13.11.2023 um 00:13 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2023 um 14:14 Uhr
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Am 3. November zogen in Essen Islamisten mit Dschihad-Fahnen durch die Strassen.
Foto: Pascal Scheiber

Essen? Die Stadt mit knapp 600’000 Einwohnern im Zentrum des Ruhrgebiets sorgt selten für internationale Schlagzeilen. Anders dieses Jahr. Im Juni prügelten mehrere Hundert Männer aufeinander ein – Libanesen gegen Syrer. Grund für die Massenschlägerei, die mehrere Verletzte forderte, soll ein Streit zwischen zwei Elfjährigen gewesen sein.

Noch erschreckender aber waren die Schlagzeilen von Anfang November. Bei einer Pro-Palästinenser-Demonstration von rund 3000 Personen schwenkten Islamisten in der Innenstadt dschihadistische Fahnen und forderten die Vernichtung Israels sowie die Gründung eines Kalifats. Noch nie hat der Islamismus bei einer behördlich bewilligten Veranstaltung in Europa so offen sein Gesicht gezeigt. 

Wie konnte es in Essen, das im Bundesland Nordrhein-Westfalen liegt, so weit kommen? Blick tauchte in die muslimische Welt der Stadt ein, um Antworten zu finden. 

Grosse Zuwanderung

Erste Station ist die Kettwiger Strasse, die Fussgängerzone nördlich des Bahnhofs. Sie und ihre Nebenstrassen zeugen davon, dass hier in den vergangenen Jahren eine grosse Zuwanderung aus muslimischen Ländern stattgefunden hat. Hier werden Falafel, Manakish, Döner sowie andere Spezialitäten aus dem Nahen Osten und Nordafrika angepriesen. «Vor 40 Jahren war ich hier noch die einzige Ausländerin», sagt eine Frau, die hier arbeitet. 

Zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt liegt die Al-Taqua-Moschee, die früher als Assalam-Moschee für negative Schlagzeilen gesorgt hatte und vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Eine muslimische ZDF-Reporterin hatte 2018 ein halbes Jahr undercover recherchiert und war schockiert über Hasspredigten und Whatsapp-Nachrichten mit radikal-islamistischem Inhalt, die im Frauenkreis ausgetauscht wurden.

«Alle rausgeworfen»

2021 hat die Moschee den Namen geändert. Vorsteher Mohamed Bourmenir (52) erzählt, dass er vom alten Team «alle rausgeworfen» habe. «Die Polizei hat eine Zwangsräumung durchgeführt», sagt er gegenüber Blick. Was der Grund war, verrät er nicht. Und ob sein Haus noch immer unter Beobachtung steht, weiss nur der Verfassungsschutz. 

Bourmenir distanziert sich von den Islamisten, die am 3. November beim Umzug mitgelaufen sind. «Das waren Kinder, die provozieren und hetzen wollten. Es war alles nur Show. Das hat nichts mit dem Islam zu tun.» Die Ausrufung eines Kalifats halte er für einen absoluten Blödsinn, und er tippt sich mit dem Finger gegen den Kopf: «Wir leben doch hier in einem Rechtsstaat.»

Er beteuert, dass in seiner Moschee jetzt alles mit rechten Dingen hergehe. Um das zu beweisen, lädt er die Blick-Reporter am Freitag um 13 Uhr zum Gebet ein. Dicht gedrängt sitzen Männer – darunter viele junge – auf dem Teppich. Wegen Platzmangels lauschen viele Muslime sogar draussen im Regen den arabischen Worten des Imams. Kameras sind hier verboten.

Muslime wollen aufholen

Weil es unter den Gläubigen auch viele Nicht-Araber hat, übersetzt Bourmenir anschliessend auf Deutsch. «Von den 50 Millionen Muslimen in Europa arbeiten 40 Millionen nicht», redet er den Zuhörern ins Gewissen. Die Männer würden statt arbeiten lieber gamen, die Frauen sich stundenlang schönmachen. Studien belegen tatsächlich: Wegen soziokultureller Unterschiede und mangelnder Sprachkenntnisse sind Muslime in Europa weniger erwerbstätig. Sie müssten sich zwingend weiterentwickeln, sagt er. Bourmenirs Appell: «Wir dürfen nicht stehenbleiben!»

Von Islamismus will hier keiner etwas wissen. Der Syrer Abdelmadjid (26) verrät nach dem Gebet, dass er zwar an der Demonstration teilgenommen habe, um seine Solidarität mit den Palästinensern zu zeigen, aber von einem Kalifat nichts halte. «Die Leute im Gazastreifen tun mir leid. Ich will, dass alle Menschen in Frieden leben können.» 

Angst vor Islamisten

In einer Moschee in einem Industriegebiet, die wie manch andere per Video überwacht wird, lernen in der Koran-Schule gerade viele Kinder beten. Der aus Afrika stammende Vorbeter nimmt sich zwischen zwei Kursen kurz Zeit. Die Islamisten gehörten der Sekte Hizb ut-Tahrir an, mit denen seine Gemeinde vor Jahren im Streit gestanden habe, sagt er. Und er betont: «Wir haben ihnen klargemacht, dass sie bei uns keinen Platz finden würden.» Wo sie sich heute träfen, wisse er nicht. «Es muss irgendwo im privaten Bereich sein.» 

Er will weder seinen Namen noch den Namen seiner Moschee veröffentlicht haben – aus Angst, dass er «zur Zielscheibe solcher Menschen» würde.

Keine Entwarnung

Laut Schätzungen sind von den rund 18 Millionen Einwohnern in Nordrhein-Westfalen rund zehn Prozent Muslime. Wie viele sind extrem? Darauf gibt der Verfassungsschutz eine Antwort. Im vergangenen Jahr hatte dieser von den 850 bis 1000 Moscheen im Bundesland 114 unter seine Beobachtung gestellt. Gezählt wurden rund 2800 Salafisten, 600 davon sollen gewaltbereit sein.

Wann und in welchem Zusammenhang sie wieder auftreten oder sogar zuschlagen werden, wissen nur die Islamisten selbst. Herbert Reul (71), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, bilanziert in seinem Vorwort zum Verfassungsschutzbericht, dass in Deutschland weiterhin eine grosse Gefahr von islamistisch motivierten Extremisten für terroristische Anschläge bestehe. Reul: «Im Islamismus gibt es keine Entwarnung.» 

Betroffene Muslime

Um die verschiedenen Kulturen zu integrieren und Radikalisierung zu erkennen, setzt die Stadt Essen auf einen regelmässigen interreligiösen Dialog. Daran nimmt auch Muhammet Balaban (68) teil. Er ist Vorsitzender des Essener Verbunds der Immigrantenvereine.

Ihn schmerze es, dass das Fehlverhalten einer kleinen Gruppe der ganzen islamischen Community schade, sagt er gegenüber Blick. «Wir verurteilen, was passiert ist. Wer damit zu tun hat, gehört nicht zu uns.» Als Zeichen der Solidarität schliesst er sich am Sonntagabend bei der Alten Synagoge einer Menschenkette gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt an.

Oberbürgermeister will kämpfen

Diese unter Denkmalschutz stehende, ständig polizeilich bewachte Alte Synagoge war 1913 gebaut worden. Seit 2010 dient das Gebäude, auf das im vergangenen Jahr geschossen wurde, als Haus jüdischer Kultur. Am Donnerstag fand darin die Gedenkfeier zur Reichskristallnacht statt, in der die Nazis 1938 das Innere des Gebäudes in Brand setzten. 

Oberbürgermeister Thomas Kufen (50) sagte in seiner Ansprache mit Blick auf die Demonstration vor einer Woche: «In diesen Tagen geschieht einiges, das einen vor Scham im Boden versinken lässt. Ich verstehe, wenn es viele Essener aufwühlt, ich gehöre auch dazu.» Zu lange sei der eingewanderte Antisemitismus ignoriert oder verharmlost worden. «Wir brauchen ein entschiedenes Auftreten gegen jede Form von Antisemitismus.»

Was ist schiefgelaufen?

Schalwa Chemsuraschwili (45), der Vorsitzende der jüdischen Kultus-Gemeinde in Essen, meint nach der Gedenkfeier im Gespräch mit Blick, dass «bei der Bildung und der Integration irgendetwas schiefgelaufen» sei. Besonders junge Muslime seien radikalisiert. Chemsuraschwili: «Diese Menschen, die Deutschland als ihre Heimat ausgesucht haben, müssen die Werte kennen, die hier gelten. Wenn sie damit nicht einverstanden sind, sollten sie nicht hierbleiben.»

Dass mitten in Deutschland an einer bewilligten Demonstration Islamisten Terror-Fahnen schwenkten und ein Kalifat forderten – und das, ohne belangt werden zu können –, bezeichnet er als «eine neue Qualität» von Extremismus und Bedrohung. Der aus Georgien stammende Chemsuraschwili ist schockiert: «Ich hätte mir so etwas nicht einmal in Albträumen vorstellen können.»

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