Darum gehts
- Massenprotest in Belgrad gegen Regierung. Vorwurf: Korruption. Protestwelle seit November
- Verdacht auf Einsatz einer Schallkanone gegen friedliche Demonstranten
- Schätzungen zufolge nahmen bis zu 325'000 Menschen an der Demonstration teil
Friedlich stehen unzählige Menschen in Belgrad am Samstag zusammen. Schätzungen gehen von bis zu 325'000 Demonstranten aus. Sie alle haben genug von der Regierung rund um Präsident Alexander Vucic (55). Der Vorwurf: Korruption. Seit November rollt eine Protestwelle über das Land.
Viele Bilder und Videos von dem Massenprotest gehen um die Welt. Darunter besonders ein Moment: Die Polizei soll eine Schallkanone gegen die ruhige Menge eingesetzt haben. Beweisen sollen das mehrere Aufnahmen. Darauf ist zu sehen, wie die Demonstranten ruhig zusammenstehen. Doch dann bricht Panik aus.
Demonstranten klagen über Ohrenschmerzen
Plötzlich flüchten die Menschen an die Seite. Als ob eine unsichtbare Kraft sich ihren Weg durch die Menge bahnen würde. Dahinter soll eine Schallkanone, auch als Long-Range Acoustic Device (LRAD) bekannt, stecken. Militäranalyst Aleksandar Radic ist sich sicher, dass die Waffe zum Einsatz kam. «Der einzige Zweck dieser Tat ist eine brutale Machtdemonstration, ein Beweis der Arroganz, und das Motiv ist Hass gegenüber dem eigenen Volk», sagt Radic zum TV-Sender N1.
«Was gestern Abend geschah, war ein Akt staatlichen Terrors. Während einer friedlichen Demonstration, als die Menschen 15 Minuten lang still der 15 Opfer staatlicher Korruption gedachten, wurde die Polizei angewiesen, eine verbotene Schallkanone in die Menschenmenge abzufeuern, um eine Massenpanik zu provozieren. Ziel war es, Opfer und Massengewalt zu provozieren», sagt Jovana Dikovic, Leiterin für nachhaltige Entwicklung und integratives Wachstum an der Universität Freiburg, zu Blick.
Die deutsche Journalistin Tatjana Ohm ist sich ebenfalls sicher. Sie war live bei dem Massenprotest dabei und schildert auf X, was sie erlebte. «Ich stand direkt am Eingang meines Hotels, um die 15 Gedenkminuten zu beobachten. Stille. Unübersichtliche Menschenmasse vor mir. Nach 12 Minuten, mit einem Mal ein Geräusch, ich konnte nicht einordnen, was es ist, dann begannen die Tröten und mit einem Mal panisches Gedränge in der Menschenmenge vor mir.» Danach habe sie von anderen Demonstranten erfahren, dass sie über Ohrenschmerzen klagen. Die serbische Polizei und das Verteidigungsministerium haben den Einsatz der Waffe bestritten.
Kopfschmerzen, Orientierungslosigkeit und Gehörverlust
Entwickelt wurde die Schallkanone in den USA. Es handelt sich um eine rein akustische Waffe, bei der mittels Schalldruck Töne konzentriert in eine Richtung «geschossen» werden. Bis zu 135 Dezibel und mehr können dabei erreicht werden. Zum Vergleich: Ab 80 Dezibel, so laut wie ein Rasenmäher, kann das menschliche Ohr Schaden nehmen. Alles darüber bedeutet Stress und ein Risiko für Schäden. Die Folgen bei den Opfern: Kopfschmerzen, Orientierungslosigkeit, Übelkeit bis hin zum Gehörverlust. Studien zu den gesundheitlichen Schäden gibt es nicht.
Schallkanonen kamen seit ihrer Entwicklung besonders im Krieg zum Einsatz. Aber auch, um Demonstrationen zu stören und aufzulösen, wurden LRADs schon genutzt. Als der G20-Gipfel in Pittsburgh stattfand, wurde mit einer Schallkanone eine nicht bewilligte Demonstration gestört. Es war das erste Mal, dass das LRAD während eines Protests in den USA eingesetzt wurde. Danach folgten weitere Einsätze.
Keine Überlegungen für die Schweiz
In der Schweiz ist bislang kein Einsatz einer Schallkanone bekannt. «Die Kantonspolizei St. Gallen verfügt über kein solches Gerät und es gab auch keine Überlegungen, eine solches anzuschaffen», sagt etwas Kapo-Sprecher Florian Schneider zu Blick.
Auch die Kantonspolizei Zürich bestätigt, dass ein LRAD nicht zum Einsatz kommt. Kapo-Sprecher Florian Frei zu Blick: «Die Kantonspolizei Zürich verfügt über keine solchen Einsatzmittel.»
Wachsender Druck auf Regierung
Die von Studierenden angeführten Proteste hatten in der Stadt Novi Sad am 1. November nach dem Einsturz eines Bahnhofsvordachs begonnen, bei dem 15 Menschen ums Leben gekommen waren. Das Unglück befeuerte die Wut über die Korruption in Serbien, die Proteste richten sich inzwischen auch gegen die Regierung von Präsident Vucic.
Die serbische Regierung steht wegen der Protestwelle unter wachsendem Druck. Ende Januar erklärte Ministerpräsident Milos Vucevic seinen Rücktritt. Vucic ruft derweil abwechselnd zum Dialog auf oder macht ausländische Einmischung für die Proteste verantwortlich – ein Vorwurf, den auch Kremlchef Wladimir Putin (72) geäussert hatte.