Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Phase im Krieg gegen Russland: Die Truppen an der Front haben mit Munitionsmangel zu kämpfen und Moskau bombardiert täglich mehrere ukrainische Städte. Es ist sogar von einer drohenden Grossoffensive auf die ukrainische Metropole Charkiw die Rede.
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In einem neuen Interview mit der «Bild» spricht der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) über die drohende russische Offensive, Putins Wünsche und mögliche Atom-Drohungen. Blick liefert eine Übersicht.
Kommt es zum Grossangriff auf Charkiw?
Selenski schliesst einen Angriff Russlands auf Charkiw nicht aus. Es sei schon von Anfang an Putins Ziel gewesen, Charkiw einzunehmen, sagt Selenski: «Charkiw ist eine der historischen Hauptstädte der Ukraine, deshalb hat es eine grosse symbolische Bedeutung.» Der Präsident gibt zu, dass die russischen Angriffe auf ukrainische Infrastruktur grosse Verluste fordern. «Das hat grossen Einfluss auf den Krieg. Die Angriffe auf die Energieversorgung fügen der Bevölkerung und den Städten grossen Schmerz zu.»
Die Ukraine sei jedoch fest entschlossen, einen Angriff zu vereiteln. «Wir machen alles, um eine Offensive nicht zuzulassen.»
Wie steht es um die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine?
Die Luftabwehrsysteme machen dem Ukrainer zu schaffen. «Sie reichen derzeit nicht aus.» Er macht klar, dass sein Land auf Waffenpakete aus dem Westen angewiesen ist – nur so könne eine Niederlage abgewendet werden. Was auffällt: Selenski legt seinen Fokus explizit auf die Luftabwehr und spricht nicht mehr von Panzern und Raketen: «In erster Linie müssen wir uns verteidigen können. Drohnen ersetzen keine Luftabwehr.»
In dem Interview mit «Bild» macht Selenski klar: «Putins Wunsch ist es, die gesamte Ukraine einzunehmen.» Dies würde sich auch nicht ändern, wenn man den Krieg kurzzeitig «einfrieren» würde.
Wie sähe ein Trump-Friedensplan aus?
Kürzlich äusserte sich der US-Präsidentschaftsanwärter Donald Trump (77) zu seinem potenziellen Friedensplan für die Ukraine. Einem Bericht der «Washington Post» zufolge soll die Ukraine laut Trump Teile ihres Ostens sowie die Krim an Russland abtreten. Im Gegenzug dazu soll ein Waffenstillstand vereinbart werden. Einem solchen Plan würde Selenski nicht zustimmen: «Diese Idee ist ziemlich primitiv», so Selenski gegenüber «Bild». Die Ukraine sei auf reale Friedenspläne angewiesen, denn es gehe schliesslich um Menschenleben, so Selenski.
Selenski hofft, dass Trump bald in die Ukraine reist. «Damit er mit seinen Augen die Situation sieht und bestimmte Schlüsse zieht. Ich bin auf jeden Fall bereit, mich mit ihm zu treffen.»
Über fehlende Taurus-Lieferungen und Atom-Drohungen
Selenski versteht nicht, warum er von seinen Partnern keine «für die Ukraine überlebenswichtige Waffen» erhält. Damit meine er deutsche Taurus-Marschflugkörper, aber auch amerikanische ATACMS-Kurzstreckenraketen und F-16-Kampfjets, wie er im Interview ausführt.
Es sei ein heikles Thema, so Selenski. «Soweit ich es verstehe, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz, dass Deutschland keine Atommacht ist und dass es das stärkste Waffensystem in Deutschland ist.» Scholz könne sein Land nicht ohne das Waffensystem zurücklassen. Brisant: Selenski glaubt, dass die deutsche Zurückhaltung mit Putins-Atomdrohungen zusammenhängen könnte. «Aber ich denke nicht, dass das die Welt vor der atomaren Gefahr seitens Russland schützen wird.»
Kann die Ukraine Russland besiegen?
Selenski hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. «Wir können Russland noch immer besiegen», sagt er. Man sei aber auf ein milliardenschweres Waffenpaket aus den USA angewiesen. Das Hilfspaket der Amerikaner wird seit Monaten von Republikanern im Kongress blockiert. «Die modernen Waffensysteme hat der vereinigte Westen. Deshalb werden wir bestimmte Technologien erhalten. Und wenn wir die Produktion weiter steigern, wenn wir von unseren Partnern Lizenzen bekommen, dann geht es nicht um die Anzahl der Menschen. Es geht um die Qualität der Waffen», so Selenski.