Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) hat angesichts der Gerüchte um eine bevorstehende russische Offensive auf die Millionenstadt Charkiw eine Eroberung der Metropole ausgeschlossen. «Charkiw ist heute geschützt», sagte Selenski in einem am Samstag im Fernsehen ausgestrahlten Interview.
Dies, während russische Medien die Belagerung von Charkiw ankündigen. «Die Bevölkerung und Beamte fliehen aus Charkiw, das Leben steht still», schreibt die russische Zeitung «Prawda». «Die russischen Streitkräfte bereiten eine Belagerung der Stadt vor.»
Selenski räumte ein, dass die Stadt weiter anfällig gegen Luftangriffe sei, doch für die Verteidigung des Gebiets am Boden sei er absolut zuversichtlich. Seinen Angaben nach sind die von der Ukraine gebauten Befestigungsanlagen nicht nur in Charkiw, sondern auch in weiten Teilen des Front- und Grenzgebiets weitgehend fertig.
Zweitgrösste Stadt der Ukraine
Dabei behauptete Selenski unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, dass Russland zum 1. Juni eine weitere Mobilmachung von 300'000 Mann plane, um seine im Herbst begonnene Offensive fortsetzen zu können. Offiziell hat Moskau bislang Pläne für eine weitere Mobilisierungswelle dementiert.
Auch in ukrainischen Medien wird jetzt spekuliert, dass eine neue Offensive Russlands womöglich Charkiw ins Visier nehme, die nach Kiew zweitgrösste Stadt der Ukraine im Nordosten des Landes. Das ukrainische Onlineportal Strana sähe in der Einnahme von Charkiw jedoch keinen strategischen Vorteil für Russland.
Sollte Charkiw fallen, wäre dies «für die Ukraine sehr schmerzhaft, aber immer noch kein tödlicher Schlag», analysiert Strana. Der Verlust der Stadt «wird nicht zum Zusammenbruch der Front führen».
Rätselraten um Russlands Strategie
Die Ukraine müsse sich vor anderen Verlusten fürchten. Vier mögliche Ziele Moskaus von «entscheidender Bedeutung» werden aufgeführt:
Einnahme von Kiew
Der Fall der ukrainischen Hauptstadt würde den Krieg de facto beenden – jedoch nicht den bewaffneten Widerstand vor allem in der westlichen Ukraine.
Abschneiden der Ukraine vom Meer
Der Kreml könnte die Eroberung der gesamten Schwarzmeerküste der Ukraine und der Einmarsch russischer Truppen an die Grenzen Rumäniens und Moldawiens planen, schreibt Strana weiter. Die wäre sowohl wirtschaftlich als auch militärisch-strategisch ein katastrophaler Schlag für die Ukraine.
Eroberung des Dnjepr und von Saporischschja
Der Verlust des Gebietes würde eine kritische Bedrohung für die gesamte Südfront der ukrainischen Streitkräfte sowie den grössten Teil der Ostfront darstellen, so Strana. Ein möglicher russischer Plan könnte sein, mit Angriffen vom Norden und westlich von Charkiw her die gesamten ukrainischen Truppen in der Ostukraine abzuschneiden.
Angriffe von Weissrussland aus
Transnistrien, so heisst es, wäre dann von Norden her zu erreichen. Russische Truppen könnten «dadurch die Front fast vollständig von westlichen Hilfslieferungen abschneiden».
Kriegsverlauf bleibe offen
Die Strana-Analyse geht von einem «langen Zermürbungskrieg» aus. Moskau versuche, die ukrainische Armee «in ständigen Kämpfen auszubluten». Doch nicht nur die Ukraine blute. «Auch die russische Armee erleidet Verluste. Und zwar beachtliche.»
Derzeit sei der Ausgang des Krieges weiterhin offen. Weder eine Kapitulation der Ukraine sei auszuschliessen, noch, dass Moskau zu einem Waffenstillstand gezwungen werde – oder dass sich der Konflikt zu einem globalen entwickle.
«Die einzige Frage ist», so Strana, «wie lange es bis zu diesem Zeitpunkt dauern wird und wie viele Menschen noch sterben werden.» (mit SDA)