Ob im ÖV, in Geschäften oder auf der Strasse – in der Schweiz erinnert im Alltag kaum mehr etwas an Corona. Auch die Auslastung der Spitäler mit Covid-Patienten ist tief. Doch das Virus sollte auch rund drei Jahre nach Beginn der Pandemie nicht unterschätzt werden. Die Spätfolgen könnten tückischer sein als angenommen.
Selbst Patienten, die einen milden Verlauf hatten, sind vor Risiken nicht gefeit. In der Fachzeitschrift «Frontiers in Neurology» schildern die Ärzte der Universität São Paulo den Fall einer 69-jährigen Frau, die nach ihrer Erkrankung eine Demenz entwickelt hatte. Doch eine Untersuchung des Gehirns zeigte keine Auffälligkeiten, und eine Stoffwechselstörung hatten die Ärzte ebenfalls als Ursache ausgeschlossen. Hängt der plötzliche Gedächtnisverlust mit der Corona-Infektion zusammen?
Eine Studie, deren Resultate im Fachmagazin «The Lancet» erschienen sind, bestätigt tatsächlich diesen Verdacht. Eine Auswertung von über 1,2 Millionen Fällen hat ergeben, dass das Risiko für neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie etwa Demenz noch bis zu zwei Jahren nach Corona erhöht ist. Im ersten halben Jahr ist das Demenz-Risiko um 33 Prozent erhöht.
Herzinfarkt nach Corona
Demenz ist aber nicht das einzige Problem. Eine weitere Patientin erlitt drei Monate nach ihrer ebenfalls gut überstandenen Infektion einen Herzinfarkt. Die Ärzte des Texas Tech University Health Sciences Center konnten dafür keine andere plausible Erklärung finden als das Coronavirus.
In ihrer Publikation zusammen mit den Ärzten der Universität von Alexandria in Ägypten warnen die Wissenschaftler vor einem erhöhten Risiko für einen Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, eine Herzschwäche oder einen plötzlichen Herztod – und das noch mindestens ein Jahr nach der Erkrankung. Grosse Vergleichsstudien würden die Zusammenhänge bestätigen. «Selbst bei milden Fällen von Covid-19 ist eine langfristige und engmaschige Überwachung erforderlich, um späte kardiovaskuläre Komplikationen zu diagnostizieren.»
Eine US-Studie hat gezeigt, dass im Jahr nach der Corona-Erkrankung in 45 von 1000 Fällen Herz- und Gefässkrankheiten auftraten. Die Hälfte davon war schwerwiegend, schreibt die Fachzeitschrift «Nature Medicine».
Corona befällt Blutgefässe
Die wichtigste Erkenntnis der Fachkräfte ist, dass Corona keinesfalls nur eine Atemwegserkrankung sei. Viele Organe können betroffen sein.
Zentral dabei: die befallenen Blutgefässe. «Die Organe verlieren Teile ihrer Funktion, wenn sie nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt werden. Dadurch entsteht im gesamten Körper ein Globalschaden», erklärt der Kardiologe und Leiter der Kardiomyopathie-Einheit an der Berliner Charité, Carsten Tschöpe gegenüber dem «Spiegel».
Auch die Demenz hängt mit den Blutgefässen zusammen. So seien bei Gehirnuntersuchungen von Corona-Patienten leere Membranschläuche gefunden worden, sagt ein Professor am Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Universität zu Lübeck zum «Spiegel». «Wir vermuten, dass an dieser Stelle die Zellen der Blutgefässe abgestorben und die leeren Membranen, durch die kein Blut mehr fliessen kann, übrig geblieben sind.»
Dass Corona nicht zu unterschätzen sei, sagt auch die ETH-Wissenschaftlerin Tanja Stadler (41) im Blick-Interview. «Das Virus kann im Rahmen der Wellen immer noch sehr viele Menschen schnell infizieren. Schwere Verläufe kommen dann auch gehäuft vor. Mit jeder Corona-Welle gibt es in der Schweiz eine starke Übersterblichkeit.» (man)