Schweizer Legionär in Selenskis Diensten
Dieser Zürcher kämpft seit zwei Jahren an der Ukraine-Front

Jona Neidhart wollte Lehrer werden. Doch statt hierzulande Jugendliche zu unterrichten, tötet der Schweizer jetzt russische Kämpfer im Donbass – als Soldat der ukrainischen Armee. Dieser Artikel wird ihn ins Gefängnis bringen. Jona Neidhart sagt: Das sei es ihm wert.
Publiziert: 19.02.2024 um 00:22 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2024 um 20:01 Uhr
«Mr. Clean» lautet der Kämpfername von Jona Neidhart in der ukrainischen Armee. Aus gutem Grund.
Samuel Schumacher, Donezk

Wie viele Russen Jona Neidhart (36) in der Ukraine bereits getötet hat, das weiss er nicht genau. «Ich schiesse mit meinem Sturmgewehr oft auf Gräben und in Gebüsche. Die Feinde selbst sehe ich im Kugelhagel an der Front oft gar nicht», sagt der angehende Oberstufenlehrer aus Zürich. Die grauen Augen blicken freundlich drein, seine Hände sind gefaltet. Jona Neidhart sieht nicht aus wie der abgebrühte Kämpfer, der er ist.

Viele Russen müssen es in seinen fast zwei Jahren im Donbass gewesen sein, wohl Dutzende allein in jener tödlichen Nacht am 2. Juni des letzten Jahres, als Neidhart mit fünf Kameraden bei Novoselivske an der Luhansk-Front in einen Hinterhalt geriet. Knapp 80 von Wladimir Putins Soldaten umzingelten sie von drei Seiten, schossen mit Granatwerfern, Panzerfäusten und Schnellfeuerwaffen auf ihr Versteck, mehr als fünf Stunden lang. 6 gegen 80. Eigentlich ein Todesurteil. Doch es kam anders.

«Wir haben fast alle eliminiert», sagt Neidhart. Nach gut 1000 Maschinengewehrsalven und 40 Granaten waren noch vier Russen übrig und ergaben sich. «Dass wir überlebt haben, ist ein Wunder.»

Überlebt er, muss er ins Gefängnis

Jona Neidhart ist ein Hüne: 1,90 Meter gross, 110 Kilogramm schwer, breite Schultern, kahl rasiert, ansteckendes Lachen, dezente Zürischnurre. «Mr. Clean» lautet sein Kämpfername in der ukrainischen Armee. Das passt, findet Neidhart und wischt mit der Papierserviette den Boden in der improvisierten Imbissbude sauber, auf den der Blick-Reporter Schawarma-Sauce gekleckert hat.

Wir sind in einem Dorf, wenige Kilometer von Bachmut entfernt, an der Kriegsfront in Donezk. Draussen ist eisiger Winter. Immer wieder donnern Panzer auf der löchrigen Strasse vorbei. Die Kriegsfront ist erstarrt, und trotzdem ist alles dauernd in Bewegung. Ganz in der Nähe von hier hat die «Internationale Legion» der ukrainischen Armee ihre geheime Basis.

Freiwillige aus aller Welt bereiten sich an diesem Ort auf die nächsten Einsätze an der Winter-Front vor. Jona Neidhart kämpft seit dem 9. März 2022 in ihren Reihen, mit ukrainischer Uniform, monatlichem Gehalt (zwischen 1000 und 3000 Dollar) und klarem Befehl direkt von der ukrainischen Militärführung: die Russen vertreiben, die Feinde töten.

Jona Neidhart kämpft seit März 2022 in der Ukraine.
Foto: Ryan Collins

Sein Kriegsdienst ist laut Schweizer Gesetz illegal. Ihm drohen mehrere Jahre Gefängnis. Ausser seinen Eltern und einem guten Freund wusste bis zum Erscheinen dieses Artikels niemand, dass Neidhart in der Ukraine kämpft. «Ich werde mit diesem Volk leiden und nötigenfalls mit ihm untergehen, wenn es sein muss», sagt «Mr. Clean». «Und falls ich überlebe, werde ich mich in der Schweiz der Justiz stellen.» Das Gesetz respektiere er. «Moralisch aber gibt es für mich keine Alternative zu meinem Handeln. Keine!»

Pfader, Grenadier, gläubiger Christ, Front-Soldat

Neidhart wächst als Einzelkind in Zürich auf, schliesst das Literaturgymnasium Rämibühl ab, muss die Grenadier-RS in Isone TI nach zwei Monaten wegen einer Fussentzündung abbrechen und danach Wehrersatz zahlen. Er studiert in Bern Französisch und Englisch, arbeitet nebenher als Zeitungsverträger, Pfleger und Wachmann. Er reist viel, auch als Missionar für seine Kirche. Er ist gläubiger Christ, Mormone. Er ist es sich gewohnt, im Ausland für seine Überzeugungen einzustehen – und er will Lehrer werden. Waffen und Krieg: Das interessiert ihn lange nicht besonders.

Im Sommer 2021 beginnt er mit der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in Bern. In der ersten Woche des zweiten Semesters überfällt Russland die Ukraine. Ab diesem Moment kann sich Jona Neidhart nicht mehr konzentrieren. Dieser Angriff, diese Schande, diese Russen, die im Zweiten Weltkrieg schon seinen polnischen Urgrossvater umgebracht hatten. «Ich konnte nicht sitzen bleiben. Ich musste handeln», sagt er.

Er schreibt sein Testament, kündigt seinen Job, meldet sich von der Uni ab und reist mit einem Rucksack und einer dicken Schicht Kleider per Bus und Zug mitten in den Krieg. Je näher er dem Ziel kommt, je mehr Mitreisenden er erzählt, wieso er sein Leben für ein fremdes Land aufs Spiel setzt, umso überzeugter wird er selbst von seiner Mission. «Wenn ich je Zweifel hatte, dann sind die spätestens an der ukrainischen Grenze verschwunden.»

Am 9. März 2022 wird er in die Internationale Legion aufgenommen, Zug «Bravo 2», 1. Infanterie-Bataillon, zuerst als Füsilier, später als Maschinengewehrschütze. Alles fein säuberlich festgehalten in seinem ukrainischen «Dienstbüechli». Auf seiner Bewerbung für die Legion hatte er geschrieben, er sei offen für alle Positionen. «Als Ex-Pfader und Grenadier komme ich gut zurecht in der Natur. Ich weiss, wie man Granaten und Gewehre bedient. Ich liebe Kickboxen und Kung-Fu. Kampferfahrung: keine.»

Der Anschlag hat viele vertrieben, Jona Neidhart blieb

Die Legion nimmt den Schweizer mit Handkuss. Vier Tage später überlebt er einen Raketenanschlag auf das Hauptquartier nur knapp. «Kameraden hatten auf den sozialen Medien Bilder gepostet und damit unsere Stellung verraten», erzählt Neidhart. Vielen aus dem Ausland angereisten Legionären ist das schon zu viel. Sie reisen wieder ab. Jona Neidhart bleibt.

«Der Vorfall hat mir erst recht gezeigt, welchem Terror die Menschen in diesem Land tagtäglich ausgesetzt sind. Ich wollte ihnen unbedingt helfen.» Seit dem Anschlag nutzt Neidhart für seine Kommunikation nur noch E-Mails und den Nachrichtendienst Signal. Vorsicht ist seine Lebensversicherung. Eine andere kriegt er nicht.

Neidhart kämpft monatelang entlang des Siwerskyj-Donez-Flusses im Nordosten, überwacht russische Stellungen, gibt ukrainischen Spezialeinheiten Feuerdeckung beim Überqueren des Flusses, riskiert sein Leben, um vier festsitzende Kameraden aus einem Versteck ganz nah an den dauerfeuernden Russen rauszuholen. Sein Kriegsdienst ist penibel genau dokumentiert. In seinem Tagebuch und auf mehreren Auszeichnungen, die er für seine «überragenden Einsatz» von der ukrainischen Regierung erhalten hat.

Im Herbst 2022 ist er mit seiner Einheit Teil der Gegenoffensive bei Charkiw. Zehn Tage kämpft er ununterbrochen bei Kupiansk, bis die Russen fliehen. «Diesen Sieg in diesem gerechten Kampf schmecken zu dürfen, das war unbeschreiblich», sagt der Zürcher.

Jona Neidharts Front-Stationen.

«Als wir durch die befreiten Gebiete fuhren, begrüssten und umarmten uns weinende Menschen mit Blumen und Ukraine-Fahnen.» Für deren Freiheit, sagt Neidhart, sei er bereit, sein Leben zu opfern. Bis im Juni 2023 verteidigte er Stellungen im Gebiet Luhansk. Seither wird seine Einheit immer wieder für Einsätze in Donezk eingesetzt.

Er kämpft am liebsten mit leerem Magen

Knochenharte Arbeit, unter extremen Bedingungen. Gut 40 Kilo schwer ist Jona Neidharts Ausrüstung: Gewehr, Schutzweste, Helm, Munition. Das Essen, das die Logistiker in ihre Verstecke bringen: reichlich, aber ungesund. «Ich kämpfe sowieso lieber mit leerem Magen», erzählt er. «Jedes Mal, wenn du im Kugelhagel seichen oder kacken musst, riskierst du dein Leben.»

Dem Tod begegnet Jona Neidhart überall in den zerbombten Weiten dieses geschundenen Landes. 30 seiner Kameradinnen und Kameraden, Freunde, ja «Brüder», haben die Russen schon getötet. Einer ist vor seinen Augen verblutet. Die Wunden waren zu schlimm, «Mr. Clean» konnte die Blutung nicht stoppen, die Wiederbelebungsversuche nützten nichts. Er konnte den Kameraden nur noch halten, ganz fest, bis zum allerletzten Atemzug.

Jona Neidhart stockt die Stimme, als er von diesem Moment erzählt – zum einzigen Mal in unserem knapp dreistündigen Gespräch. Die grauen Augen sind auf einmal wässerig. «Es gibt mir einen inneren Frieden, dass ich für ihn da sein konnte bis ganz zum Schluss …». Jede Begegnung kann immer die Letzte sein. Und wer jemals von Jona Neidhart umarmt wurde, der weiss, wie sich das anfühlt, wenn einer Tschüss sagt, der das danach vielleicht nie mehr tun kann.

Was ihn hält, ist sein Glaube, die Bibel, der kleine Gottesdienst, den er Sonntag abhält. Er bricht Brot, trinkt Wasser, betet. «Deus vult» («Gott will es!») steht auf dem Badge auf seiner linken Schulter. «Wenn Menschen um Hilfe bitten, muss und will ich ihnen als gläubiger Mann helfen», sagt Neidhart. Und wenn die Hilfesuchenden von einer fremden Macht grundlos angegriffen werden, heisse helfen halt kämpfen.

«Deus vult» («Gott will es») steht auf dem Badge, den der gläubige Christ auf seiner linken Schulter trägt.
Foto: Samuel Schumacher

Den psychologischen Dienst der ukrainischen Armee braucht er nicht. Er hat das Schreiben, sein Tagebuch, abgefasst in schöner Schnürlischrift. Die Einträge lesen sich für normale Menschen wie zynische Randnotizen aus einer untergehenden Welt. «Heute wars ruhig, nur russischer Artillerie- und Panzerbeschuss auf unsere Stellung, nichts allzu Wildes», steht da zum Beispiel. Neidhart meint das ernst. Sein Spektrum hat sich arg verschoben. Das Extreme, der Abgrund, der Wahnsinn dieses sinnlosen Kriegs: Für ihn ist es jetzt Alltag.

Sein Vorbild: die alten Eidgenossen

Einmal nur hat er den Wahn verlassen. Im letzten Sommer ist er für einen Monat in die Schweiz gekommen: Raclette, die Eltern, die Kirche, die Berge, ein neuer Pass. Dann kehrte er zurück an die ukrainische Front.

Eine Handvoll Schweizer gibt es, die wie er in der Ukraine kämpfen. Blick hat mehrere von ihnen im Frontgebiet getroffen. Sie alle erzählen ähnliche Geschichten. Nur einer aber steht mit Namen hin, im vollen Bewusstsein, dass ihn das hinter Gitter bringen kann. «Das hier, dieser Kampf, der ist tausendmal wichtiger», sagt Jona Neidhart. Dass das viele in seiner Heimat noch immer nicht begriffen hätten, mache ihn traurig, manchmal wütend. Dabei hätten schon die alten Eidgenossen verstanden, dass es keine Freiheit gibt ohne Wagnis, dass Passivität zum Untergang führt.

Der Ex-Grenadier riskiert bei seiner Arbeit zuvorderst an der Front regelmässig sein Leben.
Foto: ZVG

In der geheizten Imbissbude am Rand der winterlichen Donbass-Schlachtfelder erzählt der Zürcher von den Kriegen gegen die Habsburger, von Karl dem Kühnen und von den helvetischen Söldnern. In ihrer Tradition sieht er sich. Ein Schweizergardist, nicht im Dienst für den Papst, sondern im Kampf gegen Putin. Hellebarden und farbiges Kampfgewand aber reichen hier nicht. «Es bräuchte schwere Waffen, Fahrzeuge. Die Schweiz könnte das Material liefern, das die Ukraine für den Sieg so dringend braucht – wenn sie nur wollte», sagt Neidhart. Jeder ausgediente Schweizer Panzer hätte es verdient, auf dem Schlachtfeld gegen die Tyrannei anzustürmen, statt irgendwo im Thurgau in einer Lagerhalle zu verrosten.

Will er je zurück zu den Freunden und Feiglingen?

Leider habe die Schweiz «keine Eier», sagt «Mr. Clean». Die Neutralität verklebe die helvetischen Sinne wie flüssiger Teer. Für Diplomatie aber sei jetzt keine Zeit. «Die einzige Sprache, die die Russen verstehen, ist eine Stahlfaust ins Gesicht. Man muss ihnen die Birne verhauen und ihnen zeigen, dass das so nicht geht.» Danach könne man reden.

«Wir kämpften zu sechst gegen 80 Russen»
7:00
Neidhart erzählt von der Front:«Wir kämpften zu sechst gegen 80 Russen»

Jona Neidhart wirkt gefasst, wenn er das sagt. Der Blick bleibt ernst, die Hände gefaltet. Wenigstens die Frage der Neutralität müsste man jetzt anpacken, sagt der Mann, der seit zwei Jahren sein Leben für ein fremdes Volk riskiert. Die Schweiz brauche eine «bedingte Neutralität». Wenn es einen klaren Aggressor gäbe, der ein unschuldiges Land angreife, sei Raushalten keine Option. Wer jetzt gar eine «immerwährende Neutralität» in der Verfassung verankern wolle, sei ein Feigling.

Will er irgendwann zurückkehren zur Familie, zu den Freunden, zu den Feiglingen? Kann er das nach zwei Jahren in dieser absurden Hölle überhaupt noch? «Ich glaube, ich bin noch immer normal im Kopf», sagt Neidhart und lächelt. «Ich will bleiben, so lange das nötig ist – selbst wenn das noch zwei, drei Jahre dauert. Und wenn ich überlebe, stelle ich mich der Schweizer Justiz. Ich will mich nicht verstecken.»

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Jona Neidhart steckte mitten in seiner Lehrer-Ausbildung, als Russland die Ukraine überfiel.
Foto: Samuel Schumacher

Doch die geheizte Schweizer Gefängniszelle ist weit weg. Der Winter im ukrainischen Osten ist bissig kalt, die Gedanken sind frei, das Leben ist verdammt gefährlich. Vielleicht wird es Jona Neidhart nicht schaffen. Vielleicht wirds auch ihn erwischen. Er könnte verbluten, explodieren, verbrennen, erfrieren.

Doch eher den Tod als in der Knechtschaft leben, findet Neidhart. Darauf hatten auch die alten Eidgenossen einst geschworen. Denn wo Tyrannen lauern, da wartet ein edler Kampf. Jona Neidhart will ihn führen – bis zum Schluss.

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