«Bitte schick mir Zigaretten»
So leben Putins Soldaten im ukrainischen Geheim-Knast

Seit Monaten verweigert Russland Gefangenenaustausche mit der Ukraine. Das grösste Kriegsgefangenenlager im Land ist bald überfüllt. Und für die Tausenden geschnappten Soldaten stirbt die Hoffnung auf baldige Freilassung. Eine Reportage.
Publiziert: 18.11.2023 um 19:04 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2023 um 05:11 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Das bestgehütete Geheimnis der Ukraine liegt am Rand eines kleinen Dorfs irgendwo im Westen des Landes. Hier, in einem riesigen Bau mit weissen Mauern und viel rostigem Stacheldraht, sind Tausende russische Soldaten eingesperrt. Kriegsgefangene, geschnappt an der fernen Front, eingesperrt auf unbestimmte Zeit, mit dem Ziel, sie irgendwann gegen die ukrainischen Kämpfer in den russischen Lagern auszutauschen.

Wo das einzige Kriegsgefangenenlager der Ukraine steht, bleibt aus Sicherheitsgründen geheim. Auch die genaue Zahl der Insassen will Petro Yatsenko (45) nicht verraten: «Es sind viel zu viele», sagt der ukrainische Zuständige für die Behandlung von Kriegsgefangenen nur und schreitet rasch über den Gefängnishof. Russland verweigert einen weiteren Gefangenenaustausch seit mehr als drei Monaten. «In vier Wochen sind wir hier voll», sagt Yatsenko. Ein zweites Kriegsgefangenenlager wird bald in Betrieb genommen.

Bissig ist die November-Kälte, blau-gelb sind die Netze an den Fussballtoren, ganz in Blau gekleidet die Gefangenen, die mit hinter dem Rücken verschränkten Händen schweigend durch den Hof huschen. Viele humpeln an Krücken. An den Gefängniswänden hängen Fotos der Klitschko-Brüder und alter ukrainischer Herrscher. Sie sollen die Russen über die Geschichte jenes Landes aufklären, das sie von einer angeblichen Nazi-Regierung befreien wollten.

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Das einzige Kriegsgefangenenlager der Ukraine steht an einem geheimen Ort.
Foto: Samuel Schumacher

Chabis-Folter und kein Salz in der Suppe

Igor (32) ist einer von ihnen. Er sitzt im geheizten Fernsehzimmer mit gut 50 anderen Männern. Die einzige Frau, die je hier landete, wurde vor einem Jahr ausgetauscht. «Ich sass schon in Russland im Knast, wegen Mordes», sagt Igor, Millimeterschnitt, schelmischer Blick. Man habe ihm die Freiheit versprochen, wenn er sechs Monate in der Ukraine kämpfen würde. «Also kam ich. Ich glaubte ihnen das mit den Nazis. Aber ich habe keine gefunden.»

Zuhinterst im Raum sitzt Anton (26), Elektriker aus Sibirien, eingezogen gegen seinen Willen, behauptet er mit zittriger Stimme. «Ich wollte diesen Krieg nicht. Und den Familien derer, die ich getötet habe, möchte ich sagen: Es tut mir leid.» Dann fragt Anton den Reporter mit grossen Augen, ob er ihm nicht vielleicht etwas Süsses geben könnte, irgendetwas.

Dessert gibt es keines im ukrainischen Kriegsgefangenenlager. Dafür traditioneller Borschtsch – eine Suppe–, Pasta mit Fleisch und sechs Scheiben Brot zum Zmittag. In Schichten marschieren die Gefangenen in den Esssaal, fassen Aluminiumlöffel und Geschirr, schlürfen schweigend. Wir essen mit, die Suppe schmeckt fad. «Kein Salz: Das ist die Strafe dafür, dass sie uns Bachmut geklaut haben», sagt Petro Yatsenko und zwinkert. Natürlich halte man sich an die Ernährungsvorschriften, schiebt er nach und erwähnt zum zigten Mal die Genfer Konvention, die in 143 Artikeln regelt, wie man Kriegsgefangene zu behandeln habe.

«Ich habe hier keine Nazis gefunden»
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Russischer Kriegsgefangener:«Ich habe hier keine Nazis gefunden»

Hab und Gut sind geschützt – ausser Waffen und Pferde (Artikel 18), trocken, hell und warm muss das Lager sein (Artikel 25), keine Zwangsarbeit (Artikel 49). Steht alles in grossen Lettern draussen im Gefängnishof. «Auch die Russen haben das ratifiziert», sagt Yatsenko. Aber die gäben einen Dreck darauf. 85 Prozent der befreiten ukrainischen Kriegsgefangenen berichteten nach ihrer Befreiung von Folter. Immer wieder habe er die Geschichte mit dem Chabis gehört, sagt Yatsenko: «Sie kriegten eine Schale mit siedend heissem Wasser und ein paar Kohlblättern drin. Man gab ihnen eine Minute Zeit zum Essen. Sie mussten sich entscheiden: Will ich mir den Hals verbrennen – oder doch lieber weiterhungern?»

Die Hände, die zum Töten kamen, flechten nun Korbstühle

Ganz anders laufe es hier. Die Hälfte der Gefangenen sei nach drei Monaten übergewichtig. «Am liebsten wäre mir, man würde die Gefangenenaustausche in Zukunft nach Gewicht regeln, nicht nach Anzahl Personen. Wir kriegten zwei hungrige Ukrainer für einen fetten Russen», sagt Yatsenko.

Galgenhumor. Er hilft den ukrainischen Aufsehern, mit der Trostlosigkeit dieses Orts umzugehen. Den russischen Insassen hilft die Arbeit. In einer Backsteinhalle fertigen Hunderte Gefangene Gartensessel an. Fahles Licht fällt auf die bleichen Gesichter. Die Hände, die zum Töten kamen, flechten nun Korbstühle. Es tackert, hämmert, bohrt. Mehrere Russen hantieren mit spitzen Japanmessern. Nur, wer die zweiwöchige psychologische Überwachung nach Eintritt ins Lager absolut unauffällig übersteht, darf hier in der Korbstuhlhalle mit den potenziellen Mordinstrumenten werkeln.

Alle anderen, alle Gefährlichen, sitzen drüben im Neonröhrenkeller und kleben Papiersäcke zusammen. Rund zehn Franken kriegen sie dafür pro Monat. Und ein bisschen Ablenkung von ihrem Elend obendrauf. Die hat Vitali (60) dringend nötig. Mit glasigem Blick sitzt er an seinem Tisch, vor sich einen Stapel Papiersäcke, Leim und die hoffnungslose Lage, in die er sich hineinbugsiert hat.

«Ich habe mich freiwillig gemeldet, ich bin Patriot», sagt Vitali, der Grossvater aus dem äussersten Osten Russlands. Von da reiste er quer durch das riesige Reich, um die Ukraine «zu befreien». Schon sein Grossvater habe gegen die Nazis gekämpft, sagt Vitali. Auch er wollte für seine Enkel ein Vorbild sein. Stattdessen ist er jetzt nicht mal mehr für sie da.

Tolstoi – aber keine Pornoheftli

Ganz zuhinterst im Klebe-Keller sitzt Ablemit (31), überall tätowiert, ein Leben im Knast hinter sich – aber nicht in Russland, sondern im seit 2014 besetzten ukrainischen Donezk-Gebiet. Er rattert die Standard-Phrasen der Russenpropaganda herunter, von der Unterdrückung im Donbass, von den ukrainischen Nazis, an denen er sich rächen wollte. «Ich glaube das noch immer», sagt Ablemit. Doch die Rache muss auf sich warten lassen. Ihm drohen – wie jedem Ukrainer, der mit den Russen kollaboriert – 15 Jahre Gefängnis.

Dieselbe Strafe droht russischen Soldaten, die im Kampf freiwillig die Waffen strecken. Die Ukraine weiss das. Deshalb vermerkt sie bei allen Kriegsgefangenen, dass sie gegen ihren Willen gefangen genommen worden seien. Fair. Aber nutzlos. Die Rückkehrer seien für Putin eine Gefahr, erklärt Petro Yatsenko. Sie hätten die wahren Zustände in der Ukraine gesehen – und sie könnten Zweifel wecken an den Geschichten der russischen Propaganda. «Deshalb schickt er sie gleich wieder in den Krieg.»

Wer freiwillig in die warmen Schlafsäle (Nachtruhe von 22 bis 6 Uhr, Einzelbetten, Tolstoi-Bücher und Bibeln, aber keine Pornoheftchen) des ukrainischen Lagers zurückkehren wolle, könne sich über die «Ich will raus»-Hotline direkt bei Kiews Streitkräften melden. Jeder Gefangene erhält bei seiner Entlassung eine Karte mit der Nummer drauf. Das sei ein gutes Angebot, sagt Yatsenko. «Die Krankenversorgung in unserem Lager ist deutlich besser als in Russland.» Die Rundumversorgung der Kriegsgefangenen kostet 250 Franken pro Mann und Monat, etwa dreimal so viel wie die Mindestrente in der Ukraine.

Im Krankenflügel des Geheimgefängnisses steht ein Röntgenapparat. Es gibt ein Zahnarztzimmer und psychologische Betreuung. Ein Drittel der Gefangenen sei bei der Ankunft verletzt oder verwundet, sagt der zuständige Arzt. Viele über 40 hätten schwere Magenprobleme. «Wir helfen selbstverständlich allen – auch wenn das manchmal nicht einfach ist. Besonders bei den Vergewaltigern und Mördern, die für eine Strafmilderung in den Krieg ziehen und dann hier bei uns landen.»

Ein falsches Wort – dann wird die Leitung gekappt

Ein letzter Raum, vielleicht der düsterste im ganzen Gefängnis: Ein Telefon steht auf dem Tisch. Fünf Minuten Gesprächszeit hat jeder Gefangene pro Monat. Nebenan sitzt ein Wächter und hört ganz genau zu, was die Männer am Telefon sagen. Nur ein falsches Wort, eine heikle Information, dann wird die Leitung gekappt.

Artem (34) hat keine heiklen Informationen, aber zwei Bitten an seine Frau: «Bitte schick mir Zigaretten. Und bitte küsse Nikka von mir.» Dann steht er auf, geht raus, setzt sich in einem Nebenraum hin und erzählt: von seiner Gefangennahme im Donbass, von Nikka, seiner Tochter, die er so sehr vermisse. Artem schaut weg, Tränen schiessen ihm in die blauen Augen.

Aus dem Radio des Wächters im Hintergrund tönt Alan Walkers Song «Faded»: «Where are you now?» («Wo bist du jetzt?»), säuselt die Frauenstimme. Nikka weiss das nicht, seine Frau weiss es nicht, nicht einmal Artem selbst weiss das ganz genau. Er weiss nur, er ist weit weg von da, wo er hingehört, an einem Ort, an dem er nichts verloren hätte, und doch alles verloren hat.

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