Monatelang kein Lebenszeichen
Asowstal-Ehefrau fragt verzweifelt: «Peter, wo bist du?»

Am 29. Juli hat Anna von ihrem Mann zum letzten Mal ein Lebenszeichen erhalten. Dann ist der Asowstal-Kämpfer im Schlund der russischen Gefängnisse verschwunden. Ein Spatz machte ihr Hoffnung.
Publiziert: 26.02.2023 um 00:16 Uhr
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Aktualisiert: 26.02.2023 um 09:13 Uhr
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Anna S. hat ihren Ehemann Peter vor einem Jahr zum letzten Mal gesehen.
Foto: Philippe Rossier
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Asowstal, Mariupol: Einst standen dieser Name und diese Stadt für die ukrainische Schwerindustrie, für Umweltverschmutzung vielleicht. Seit dem Frühling 2022 steht Asowstal für eines der brutalsten Kapitel im Ukraine-Krieg. In den Atombunkern unter dem südukrainischen Stahlwerk verschanzten sich im Mai fast 3500 Menschen.

Die Betonkerker waren der einzige Rückzugsort, an dem sich die Überlebenden der Schlacht um Mariupol vor den russischen Eindringlingen verstecken konnten. Die Russen umzingelten das Werk, ein paar Hundert Zivilisten kamen frei. Zurück in der Dunkelheit blieben die teils schwer verletzten Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte.

Einer von ihnen war Peter S. (37), Tontechniker, Familienvater, Ehemann. «Mein Fels», sagt Anna S. (37) und blickt durch ihre feucht-blauen Augen auf das Treiben im Zürcher Niederdorf.

Was ihr bleibt, ist ein Stück Stahl am Handgelenk

Ob ihr Peter noch lebt, ob er leidet: Anna hat keine Ahnung. Und die Ungewissheit zerreisst sie innerlich. «Wir Ukrainerinnen können fast alles aushalten», sagt sie. An ihrem Arm baumelt ein Armband mit einem kleinen Stück Stahl aus Mariupol. Am Finger steckt ein Ring mit den Umrissen der Ukraine. Daneben der Ehering, den Peter seiner Jugendliebe einst ansteckte.

Als der Krieg vor einem Jahr über die Ukraine hereinbrach, war Mariupol eine der ersten Städte, die die russische Feuerwalze überrollte. Die Metropole am Asowschen Meer sei einmal richtig hübsch gewesen, erzählt Anna. Das Theater, das die Russen kaputt bombten: Da besuchte sie regelmässig Vorstellungen. Die Geburtsklinik, die sie mit ihren Raketen zerstörten: Da brachte sie ihre Tochter Polina (7) zur Welt. Und in den Arbeiterquartieren draussen lernte sie Peter kennen.

Da war sie vier Jahre alt. «Der hat einen schlechten Einfluss auf dich», warnte sie ihre Mutter, als sie als kleines Kind mal völlig verdreckt von einem Spielnachmittag mit Peter nach Hause kam. Doch Anna liess sich nicht beirren. «Bevor wir heirateten, nahm er mich auf einen zweiwöchigen Wandertrip auf die Krim mit», erzählt sie mit einem scheuen Lächeln im Gesicht. «Er wollte mich testen.» So einer sei er gewesen, der Peter: praktisch, schnörkellos, treu.

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Als die Welt mit den Asowstal-Kämpfern mitlitt

«Wach auf, es ist Krieg, wir gehen», schrie er ihr am Morgen des 24. Februar ins Ohr. Kurz noch dachte Anna an die Wäsche im Keller. Doch dann hörte auch sie die Explosionen. Peter fuhr Frau und Tochter raus aus der Stadt. Dann sagte er: «Ich gehe rasch zurück und hole die Eltern raus.» Kein Abschiedsgruss, keine Umarmung. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah.

Bis am 8. März hat sie nichts mehr von ihm gehört. Sie harrten in einer Siedlung nahe der Stadt aus, haben gesehen, wie der Krieg ihre Heimat zertrümmerte. Dann, am 8. März, ein SMS. «Ich lebe. Alles gut», hat Peter getippt. «Was, alles gut?!», hat sich Anna gedacht. Vor ihren Augen verwandelte sich die Stadt in eine brennende Hölle. Und mittendrin ihr Peter.

Videos aus den Bunkern von Asowstal machten die Runde im Internet: völlig erschöpfte Kämpfer, schwer verletzte Menschen, kaum Licht, kaum Essen, keine Chance zu entkommen. Die Welt bangte um das Schicksal der Eingekreisten. Und Anna war der Verzweiflung nahe.

Peter überlebte die Hölle von Oleniwka

Zweieinhalb qualvolle Monate später kam der Kapitulationsbefehl aus Kiew: «Wir geben auf. Du wirst nichts mehr von mir hören. Ich zerstöre jetzt mein Handy.» Mit diesen Worten verabschiedete sich Peter von Anna und Polina. Zusammen mit Hunderten anderen Asowstal-Kämpfern kam er in Kriegsgefangenschaft.

Stille, Verzweiflung, banges Hoffen. Am 19. Juni, einen Tag nach ihrem Hochzeitstag, plötzlich ein Anruf. «Ich weiss nur noch, dass er mir gesagt hat: Atme durch!», erzählt Anna. Einer der Kämpfer musste ein Handy ins Gefangenenlager geschmuggelt haben.

Dann wieder Stille, Verzweiflung. Am 29. Juli die Horrornachricht: Mehr als 50 Asowstal-Kämpfer kamen bei einem ungeklärten Brand im russischen Foltergefängnis in Oleniwka ums Leben. Eine Liste mit den Toten taucht auf. Peters Name steht nicht drauf. Über eine Bekannte, deren Mann ebenfalls in russischer Kriegsgefangenschaft sitzt, erhält Anna ein Lebenszeichen von Peter. Es ist das letzte Mal, dass sie von ihm hört.

Ein Spatz macht ihr Hoffnung

Sieben Monate ist das her, sieben Monate schreiende Stille in ihrem Kopf. «Peter liebte Überlebensspiele. Er kommt mit vielem zurecht», erzählt Anna. Vor ein paar Monaten ist sie mit ihrer Tochter in die Schweiz geflohen. Seither schreibt die einstige Mitarbeiterin der ukrainischen Post jeden Tag Briefe an russische Gefängnisse und Regionalverwaltungen. Sie bittet um ein Lebenszeichen, eine Bestätigung, schlimmstenfalls einen Totenschein. «Ich will wissen, was mit meinem Mann passiert ist. Ich will, dass er irgendwann wieder mit seiner Tochter unter dem Sternenhimmel stehen und mit ihr den Grossen Wagen suchen kann.»

Hoffnung? Ja, die hat sie. Wegen kleiner Dinge wie diesem Spatz, der an Silvester plötzlich durchs offene Fenster in ihr Zimmer flatterte und direkt auf die Zeichnung ihres Peters an der Zimmerwand zusteuerte. Der Spatz hockte sich mit den Flügeln schlagend auf den Rand der Zeichnung, blieb eine kurze Weile da und flog wieder hinaus in die Dunkelheit. «Ich glaube an solche Zeichen», sagt Anna. «Ich glaube an Peter.»

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