Mit seiner jüngsten Geheimaktion überraschte Alexander Kamyshin (38) die ganze Welt. Der Chef der ukrainischen Bahngesellschaft Ukrsalisnyzja hat US-Präsident Joe Biden (80) in der Nacht von Sonntag auf Montag sicher mit dem Zug ins Kriegsgebiet und kurz darauf wieder rausgebracht. Kamyshin stellte während der 20-stündigen Zugfahrt sicher, dass der mächtigste Mensch der Welt von russischen Attacken verschont bleibt und gut ausgeruht in Kiew ankommt. Ein hochriskantes Unterfangen, eine extrem gefährliche Reise. Wäre etwas schiefgegangen, dann wäre die Welt aus den Fugen.
Doch das ist sie nicht. Dank Alexander Kamyshin, dem Hünen mit den langen schwarzen Haaren und dem festen Händedruck. Blick hat den taffsten Bähnler der Welt kurz vor dem Biden-Besuch in seinem Büro in der ukrainischen Hauptstadt getroffen – als erstes internationales Medium überhaupt. Viel bewaffnetes Personal, Sandsäcke vor den Eingängen, höchste Sicherheitsstufe, keine Fotos – ausser ein Selfie mit dem Blick-Reporter: Kamyshin weiss, dass die Russen ihn töten wollen. Denn einer wie er ist Gold wert für ein Land im Krieg.
Kamyshins Arbeitszimmer sieht aus wie das Detektivbüro von Sherlock Holmes. Fehlt nur der Pfeifenrauch in der Luft. Die Zierfische im Aquarium, die Holzsessel, die Bilder an der Wand: «Ich kann das alles nicht ausstehen», sagt er. Doch Zeit für neue Deko hat er grad keine. Es herrscht Krieg in seinem Land. Und ohne die Eisenbahn hätte die Ukraine diesen Krieg längst verloren.
Joe Biden, Ignazio Cassis und ein Krokodil
Ukrainische Züge bringen Tausende Tonnen westlicher Waffen ins Land. Vor einem Jahr organisierte Kamyshin die Flucht von vier Millionen Menschen. «Und nebenbei evakuierten wir bislang 120'000 Haustiere aus dem Kriegsgebiet, unter anderem ein Krokodil aus der Stadt Charkiw», erzählt der Bahn-Chef.
Doch nicht nur bissige Reptilien zählen zu seinen fremdländischen Fahrgästen. Seit Beginn des Kriegs besuchten mehr als 250 internationale Delegationen die Ukraine mit dem Zug – im Oktober auch der damalige Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis (61). «Eiserne Diplomatie» nennt Kamyshin das. Joe Biden etwa verbrachte 20 seiner 24 Stunden in der Ukraine in der Eisenbahn. «Da muss natürlich alles passen!»
Wie aber schützt man diese VIPs vor den russischen Raketen, Herr Kamyshin? Ein scharfer Blick in die Augen des Reporters, das Kämpfer-Gesicht zum Pokerface erstarrt. «Das werde ich dir niemals verraten», sagt Kamyshin nach einer langen Pause. «Nur so viel: Kein Geheimnis überlebt lange im Krieg. Der Feind findet alles raus. Unser Grundrezept heisst deshalb: Anpassen, immer wieder neue Tricks und Routen finden.» Hochgerüstete Panzerzüge, wie sie etwa Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un für seine Reisen benutze? Klar habe man solche, sagt Kamyshin. Mehr ist nicht aus ihm rauszukriegen.
12'000 russische Angriffe auf die ukrainische Bahn
Hie und da aber tauchen Fotos der ukrainischen Spezialgefährte auf, kürzlich etwa aus Cherson. Für die erste Fahrt von Kiew in die frisch befreite südukrainische Stadt setzte Kamyshin einen komplett mit Panzerstahl verpackten Zug ein, der einen schweren Waggon zum Schutz vor versteckten Minen vor sich herschob.
Wie widrig die Umstände für die ukrainischen Bähnler und ihre Züge sind, zeigt ein Blick ins Personalbuch. 231'000 Mitarbeiter hatte Kamyshin vor Beginn des Kriegs. Sie seien die «zweite Armee» der Ukraine, sagt er. 300 seiner Leute sind getötet worden, 700 teils schwer verletzt. 9300 wurden in die Armee eingezogen. Dabei haben Kamyshins «eiserne Männer und Frauen» so viel zu tun wie nie zuvor: Mehr als 12'000 Mal haben russische Raketen Bahnhöfe getroffen oder Gleisabschnitte zerstört.
Russland hat die ukrainische Eisenbahn offiziell als «strategisches Ziel» definiert. Kein Tag vergeht ohne neue Attacken. Kamyshin schaut jede Woche persönlich bei mindestens einem Reparatureinsatz vorbei, zuletzt bei einer Entminungsaktion im befreiten Cherson. «Führen im Krieg heisst da sein, Präsenz markieren», sagt er. «Unsere Leute wissen: Wenn der Boss hier ist, dann ist unsere Arbeit wichtig.» Sein Team hat alle Schäden fein säuberlich erfasst. «Die Rechnung schicke ich nach dem Krieg den Verantwortlichen in Moskau.»
«Fickt eure russischen Kriegszüge!»
Das letzte Mal, als er sich bei Moskau gemeldet hatte, war am 25. Februar, am zweiten Tag des Kriegs. Der Kreml hatte ihn offiziell darum gebeten, die Zugstrecken zwischen Russland und der Ukraine «aus Sicherheitsgründen» intakt zu lassen. Kamyshin antwortete kurz und bündig und ebenfalls hochoffiziell: «Fickt eure russischen Kriegszüge!» Eine Zugverbindung zwischen Kiew und Moskau werde es nie wieder geben, sagt Kamyshin.
Doch der Bahnchef befasst sich nicht nur mit feindlichen Mächten, sondern auch mit Teetassen. Mitten im Krieg verfügte er, dass den Fahrgästen der Ersten Klasse der Tee im Zug nicht mehr in Kartonbechern, sondern in historischem Glasgeschirr serviert wird. Er will die ukrainische Bahn zur kundenfreundlichsten der Welt umbauen – genau jetzt, mitten im Krieg. Die Normalität, und mag sie nur vorgegaukelt sein, kann Wunder bewirken.
Grosses Vorbild bei der Service-Offensive: die SBB und die Rhätische Bahn, die Kamyshin von seinen Reisen in die Schweiz bestens kennt. «Punkto Passagierservice seid ihr Schweizer schwer zu schlagen.»
Apropos Schweiz: Kamyshin schaut peinlich genau darauf, dass all seine Züge stets pünktlich losfahren und ankommen. Jeder pünktliche Zug ist für ihn ein persönlicher Sieg gegen Putin. Über 95 Prozent waren es zuletzt, auf fünf Minuten genau, trotz des Kriegs und trotz der riesigen Distanzen (die Ukraine ist 15-mal grösser als die Schweiz). Als die Pünktlichkeitsquote während Bidens Besuch wegen all der geheimen Sicherheitsmassnahmen kurzzeitig auf 90 Prozent runterfiel, entschuldigte sich der Bahnchef auf Twitter bei den Passagieren.
Ukraine soll zum Reise-Mekka werden
«Was auch immer passiert: Wir machen weiter», sagt Kamyshin. Das hat er seinem Land versprochen. «Wenn du weisst, dass du in jeder unserer Städte jederzeit in den Zug steigen und wegfahren kannst, dann macht das vielleicht den entscheidenden Unterschied aus zwischen Weitermachen und Verzweifeln», sagt der Bahnchef.
Und wenn der Krieg vorbei ist? «Dann wird die Ukraine zum Reise-Mekka für abenteuerlustige Ausländer», sagt Kamyshin. Mit der Annahme ist er nicht allein: Der Reiseführer «Lonely Planet» hat die neu eröffnete Strecke zwischen der moldawischen Hauptstadt Chisinau und Kiew zu einer der acht schönsten Zugfahrten in Europa auserkoren.
Weitere Strecken sollen bald dazukommen. Das zeigt die neue Anzeigetafel in der Wartehalle am Hauptbahnhof von Kiew. Kamyshin liess darauf alle Verbindungen in die besetzten Gebiete auflisten. Kiew–Donezk, Kiew–Mariupol, Kiew–Sewastopol: So rasch wie irgendwie möglich sollen sie wieder in Betrieb genommen werden.
Ganz zuoberst auf der Anzeigetafel steht die Verbindung Kiew–Peremoha, das ukrainische Wort für Sieg. Geplante Ankunft laut der Anzeigetafel: 2022. Da waren Alexander Kamyshin und seine eiserne Armee für einmal nicht pünktlich.