Schon fast 200'000 Anrufe
Litauer kämpfen mit Telefon-Trick gegen Putins Propaganda

Eine Gruppe von Litauern hat rund 180'000 Mal nach Russland angerufen. Auf beliebige Nummern. Um einfach zu reden. Ziel der Aktion: Putins Propaganda kontern.
Publiziert: 03.01.2023 um 21:05 Uhr
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Aktualisiert: 04.01.2023 um 17:37 Uhr
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Freiwillige Litauer haben über 180'000 Mal nach Russland angerufen. Das Ziel: Über den Ukrainekrieg reden und Putins Propaganda kontern.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS/ Sipa USA

Zuerst sei man nur angeschrien worden. Vier, fünf Minuten lang. Mittlerweile würden die Leute zu reden anfangen – und das bis zu drei Stunden. Dies sagt der Litauer Paulius Senuta (46) gegenüber der «Süddeutschen Zeitung», und zwar in Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg. Senuta hat mit einem Freund, mit IT-Experten, Marketing- und PR-Leuten das Projekt «Call Russia» ins Leben gerufen, das folgendermassen funktioniert: Freiwillige rufen über einen Zufallsgenerator beliebige Nummern in Russland an.

Die Litauer wollen nicht nur aus westlicher Perspektive erzählen und Informationen weitergeben, sondern auch eine Meinungsänderung bei den Russen erreichen. Senuta: «In den ersten Kriegstagen hat einfach jeder hier irgendetwas getan. Unsere Idee war eben, anzurufen.» Dass alle in Litauen Verbindungen zu Russland hätten, sei doch klar. Das Land gehörte schliesslich bis 1990 zur Sowjetunion. «Und deshalb verstehen die meisten Litauer auch Russisch.»

Senuta und seine Bekannten liessen sich von der anfänglichen Wut am anderen Ende der Leitung nicht abschrecken. Auch nach zehn Monaten Krieg klingeln sie immer noch bei ihren Nachbarn durch. Bislang haben etwa 51'000 Anrufer ihr Glück versucht, zirka 180'000 Mal wurde eine russische Nummer gewählt, etwa halb so viele Gespräche haben stattgefunden. Insgesamt hat sich die Gruppe rund 40 Millionen russische Telefonnummern aus dem Internet geladen – und die sollen alle kontaktiert werden.

«Sie denken, dass wir keine Ahnung haben»

Die meisten Anrufe kämen immer noch aus Litauen und den anderen baltischen Ländern, sagt Senuta. Aber auch von Exil-Russen überall in der Welt. Manche der Angerufenen wollen laut der «Süddeutschen» danach den Kontakt halten, schreiben Nachrichten, rufen zurück. Senuta sagt: «Wir werden ständig gefragt, wo jetzt eigentlich die Front ist, welche Verluste es in der russischen Armee gibt, wie es wirklich aussieht in der Ukraine.» Selbst wenn die Leute dem Kreml in der Begründung für den Krieg folgen würden – die militärischen Meldungen glaubten sie nicht.

«Wir haben mit Psychologen eine Gesprächstechnik ausgearbeitet.» Man müsse ehrliches Interesse haben, zuhören können und konträre Ansichten ertragen. «Die denken, dass wir keine Ahnung haben und Russland einfach nicht verstehen.» Mindestens über die letzten zwanzig Jahre sei das Feindbild des Westens aufgebaut worden, der Russland nur erniedrigen wolle. «Und tatsächlich wissen doch die meisten Europäer und Amerikaner viel zu wenig oder gar nichts über die Russen.»

Fast ein Jahr später sehen sich die Aktivisten nicht am Ziel. Aber Senuta ist zuversichtlich. Und er dürfte Grund dazu haben, denn auch die folgenden Telefon-Stories rund um den Krieg sorgen derzeit für Schlagzeilen: Wie etwa die «New York Times» berichtet, rufen russische Soldaten an der Front zu Hause an und erzählen von ihrer Misere. Es hagelt Kritik an den Fähigkeiten der militärischen Vorgesetzten, sogar der russische Präsident Wladimir Putin (70) wird verflucht. Ausserdem gibt es für russische Soldaten, die aufgeben möchten, seit Neustem eine Hotline: Die ukrainische Regierung hat eine Nummer einrichten lassen, die erfolgreich zu sein scheint, wie der «Spiegel» vermeldet. (tva)

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