Die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol befindet sich laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) noch nicht vollständig in russischer Hand.
Mariupol sei «eine Stadt, die Russland weiterhin Widerstand leistet, trotz allem, was die Besatzer sagen», bekräftigte er am Donnerstagabend in einer Videobotschaft. Sein russischer Kollege Wladimir Putin (69) hatte zuvor gesagt, die Stadt sei «befreit».
Mariupol wurde in den ersten Tagen des russischen Angriffs auf die Ukraine umzingelt und wird seitdem belagert. Evakuierungsaktionen für die Zivilbevölkerung schlugen wiederholt fehl – so auch am Donnerstag. Die Stadt ist mittlerweile weitgehend zerstört. Die ukrainische Seite spricht von mehreren 10'000 Toten.
«Sie graben 30 Meter lange Löcher»
Jüngste Satellitenbilder der US-Firma Maxar Technologies zeigen nach Unternehmensangaben indessen «die Existenz einer Massengrabanlage im Nordwesten von Manhusch», einem Dorf 20 Kilometer westlich von Mariupol.
Allein in diesem Dorf «sollen die Besatzer zwischen 3000 und 9000 Bewohner begraben haben», erklärte die Stadtverwaltung von Mariupol auf Telegram. «Sie graben 30 Meter lange Löcher und bringen die Leichen unserer Bewohner von Mariupol in Lastwagen», sagte Bürgermeister Wadim Bojtschenko (44) bei einer auf Youtube übertragenen Pressekonferenz. Er schätzte, dass die russischen Angriffe seit Beginn der Belagerung mindestens 20'000 Menschen getötet haben.
In Borodjanka in der Nähe von Kiew wurden derweil nach ukrainischen Angaben neun Leichen von Zivilisten gefunden, von denen einige Folterspuren aufwiesen. Die russischen Streitkräfte hatten sich Ende März im Norden der Ukraine zurückgezogen. Kiew und westliche Staaten werfen Russland Kriegsverbrechen vor. In den Leichenhallen der Region Kiew sollen derzeit mehr als tausend zivile Todesopfer liegen. Die russische Seite bestreitet die Vorwürfe.
«Ich will keine Bomben mehr hören»
Während der Mariupol-Belagerung war es nur selten gelungen, Zivilisten aus der umkämpften Stadt in Sicherheit zu bringen. Am Donnerstag kamen drei Busse mit Frauen und Kindern aus Mariupol im rund 200 Kilometer entfernten Saporischschja an. «Ich will keine Bomben mehr hören», sagte die 34-jährige Tatjana D., die mit ihrem sechsjährigen Sohn Maxim ankam. Sie brauche dringend Ruhe und ein Bett.
Eigentlich wollten die ukrainischen Behörden noch weitere Zivilisten aus der Stadt bringen. Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk (42) erklärte jedoch am Abend auf Telegram, dass dies wegen Angriffen erneut gescheitert war.
«Der Beschuss begann in der Nähe des Sammelpunktes, wodurch der Korridor geschlossen werden musste», schrieb sie. «Liebe Einwohner von Mariupol, wisst, dass wir nicht aufgeben werden, euch da rauszuholen, solange wir wenigstens eine Chance haben! Haltet durch!» (AFP/jmh)