Nach jahrzehntelangem Rückgang könnte die Zahl der Atomwaffen in der Welt nach Schätzung von Friedensforschern bald erstmals wieder ansteigen. Trotz einer leichten Verringerung der globalen Gesamtzahl nuklearer Sprengköpfe auf zuletzt schätzungsweise 12'705 rechnet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri damit, dass diese Zahl im Laufe des kommenden Jahrzehnts wieder zunimmt.
«Es gibt eindeutige Anzeichen dafür, dass die Verringerungen, die die globalen Atomwaffenarsenale seit dem Ende des Kalten Krieges charakterisiert haben, beendet sind», sagte der Sipri-Experte Hans M. Kristensen (61).
Ohne sofortige und konkrete Abrüstungsschritte der neun Atomwaffenstaaten könnte der globale Bestand nuklearer Waffen bald erstmals seit dem Kalten Krieg wieder grösser werden, warnte auch sein Kollege Matt Korda.
Neue Waffensysteme entwickelt oder stationiert
Wie aus Sipris am Montag veröffentlichtem Jahresbericht hervorgeht, verfügen Russland mit 5977 und die USA mit 5428 gemeinsam nach wie vor über rund 90 Prozent aller Atomsprengköpfe in der Welt. Bei beiden Ländern sei die Zahl 2021 zwar weiter zurückgegangen. Dies habe aber vor allem mit der Demontage ausrangierter Sprengköpfe zu tun, von denen sich das Militär schon vor Jahren verabschiedet habe. Die Zahl der Atomwaffen in nutzbaren Militärbeständen der beiden Länder sei dagegen relativ stabil geblieben.
Sowohl in den USA als auch in Russland liefen umfassende und kostspielige Programme, um die Atomsprengköpfe, Trägersysteme und Produktionsstätten auszutauschen und zu modernisieren, schreiben die Friedensforscher.
Gleiches gilt für die weiteren Atomwaffenstaaten, zu denen Sipri zufolge Grossbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea zählen. Sie alle haben Sipri zufolge neue Waffensysteme entwickelt oder stationiert oder das zumindest angekündigt.
«Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden»
Keines der Länder habe vor, seine Atomwaffen in irgendeiner Weise abzuschaffen, sagte Kristensen der Deutschen Presse-Agentur. China befinde sich gerade vielmehr mitten in einem umfassenden Ausbau seines Atomwaffenarsenals, Grossbritannien habe 2021 angekündigt, die Obergrenze für seinen Gesamtbestand an Sprengköpfen zu erhöhen.
Seit Jahrzehnten ist die weltweite Zahl der Kernwaffen kontinuierlich gesunken. Mittlerweile macht sie nur noch weniger als ein Fünftel von dem aus, was sich zu Hochzeiten des Kalten Krieges in den 1980er-Jahren in den Arsenalen der Atommächte befunden hatte. Bereits im Vorjahr hatten Sipri jedoch eine Trendwende hin zu moderneren nuklearen Waffen ausgemacht. Deutschland besitzt keine solchen Waffen.
Die fünf UN-Vetomächte USA, Russland, Grossbritannien, Frankreich und China hatten zu Jahresbeginn beteuert, gegen die weitere Verbreitung von Atomwaffen vorgehen zu wollen. «Wir betonen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf», hiess es Anfang Januar in einer gemeinsamen Erklärung der Staaten.
«Risiko des Einsatzes von Atomwaffen jetzt höher»
Sipri monierte, dass alle fünf Länder ihre Arsenale seitdem weiter ausgebaut oder modernisiert hätten. Russland habe im Zuge seines Angriffskriegs in der Ukraine gar offen mit dem möglichen Gebrauch von Atomwaffen gedroht.
«Obwohl es im vergangenen Jahr einige bedeutende Fortschritte sowohl bei der nuklearen Rüstungskontrolle als auch bei der atomaren Abrüstung gegeben hat, scheint das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen jetzt höher als zu jedem Zeitpunkt seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges», erklärte Sipri-Direktor Dan Smith.
Die neuen Sipri-Daten beziehen sich auf den Januar 2022. Einen Monat später marschierte Russland in die Ukraine ein. Noch sei es etwas zu früh für Rückschlüsse, wie sich Russlands Angriffskrieg letztlich auf die atomare Lage in der Welt auswirken werde, sagte Kristensen.
Ein Weckruf für Nicht-Atomwaffenstaaten
Einen indirekten Effekt sieht der Experte aber schon jetzt: «Die Russen sehen, dass ihre konventionellen Streitkräfte nicht so gut sind, wie sie dachten.» Deshalb dürfte sich Russland wahrscheinlich künftig stärker auf taktische Atomwaffen verlassen. Die Nato reagiere auf den Ukraine-Krieg, indem sie die Bedeutung ihrer Atomwaffen herausstelle.
Das Risiko einer nuklearen Konfrontation habe sich durch den Ukraine-Krieg erhöht, sagte auch Kristensen. Die Gefahr sei, dass sich der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato ausweiten könnte. Zu den Problemen komme der anhaltende Konflikt zwischen Indien und Pakistan hinzu, auch wachsende Feindseligkeiten an der Grenze zwischen China und Indien sowie Nordkoreas anhaltende Atombemühungen spielten eine Rolle.
«All diese Dinge summieren sich. Es ist also angemessen zu sagen, dass wir uns im Moment in einem sehr prekären Zustand befinden», sagte Kristensen. Notwendig sei nun vor allem eine Entspannung der nuklearen Rhetorik vonseiten der Atommächte. Es sei auch ein Weckruf für Nicht-Atomwaffenstaaten, die viel mehr Druck auf die Atomwaffenstaaten ausüben müssten, um von dieser waghalsigen Politik Abstand zu nehmen. Ein Gradmesser dafür sei eine Konferenz zur Nichtverbreitung von Atomwaffen in New York im August. (SDA/jmh)