Menschen eilen von Spital zu Spital mit schwerkranken Angehörigen und werden immer wieder abgewiesen. Es gibt keine Betten, keinen medizinischen Sauerstoff mehr. Auch auf Twitter suchen Menschen wie John Abhijeet aus Delhi verzweifelt Hilfe. Er und seine ganze Familie sind Corona-positiv, seiner Mutter geht es besonders schlecht.
«Der Zustand meiner Mutter hat sich schnell verschlechtert und ich muss etwa 80 Anrufe gemacht haben», sagt Abhijeet. Jetzt liegt sie endlich in einem Bett mit Sauerstoffversorgung. Aber er hat Angst. Twitter ist inzwischen auch ein Meer aus Nachrufen auf unzählige geliebte Menschen. Alt wie jung.
Von 10'000 auf 300'000 Neuinfektionen
In Indien mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern wurden Anfang des Jahres teils noch weniger als 10'000 Fälle am Tag bekannt gegeben. Heute sind es mehr als 300'000. Wie konnte es so weit kommen?
Zu Jahresbeginn herrschte noch Euphorie im Land. Viele dachten, dass das Schlimmste nach einer ersten Welle im vergangenen Sommer mit bis zu knapp 100'000 Fällen am Tag überstanden sei. Das normale Leben kehrte zurück.
Millionen Hindus bei rituellem Bad im Ganges
Mehr und mehr Leute verzichteten auf das Maskentragen und Abstandhalten. Dann gab es religiöse Feste – darunter eines, bei dem wochenlang Millionen Hindus im heiligen Fluss Ganges badeten, um einem Zustand der Befreiung näherzukommen, bei dem der endlose Zyklus von Geburt, Tod und Wiedergeburt endet und alles Leiden aufhört. Dazu kamen Wahlkampfveranstaltungen mit grossen Menschenmengen.
Auch Virusmutationen dürften eine Rolle spielen. Die indische Variante B.1.617 steht bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter Beobachtung.
Zudem haben in Indien erst knapp zehn Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten – und das, obwohl das Land selbst Impfstoff in Massen produziert. Aber bis vor kurzem hatte die grösste Demokratie der Welt nach eigenen Angaben insgesamt mehr als 66 Millionen Dosen in 95 überwiegend arme Länder exportiert, teils gar verschenkt. Indien hatte sich als Apotheke der Welt präsentiert.
Behörden vermelden 2263 Tote innerhalb eines Tages
Nun sind die Spitäler voll – und die Krematorien ebenso. Laut den neusten Zahlen des Gesundheitsministeriums vom Freitag sind innerhalb eines Tages 2263 Menschen an oder mit Covid gestorben. Die Bestatter werden mit Aufträgen überhäuft, die Mitarbeiter in den Krematorien kommen fast nicht nach.
Das Gesundheitssystem wurde hart von der Heftigkeit der zweiten indischen Corona-Welle getroffen. Es gibt Berichte von einem Schwarzmarkt für Sauerstoff und Virushemmer. John Abhijeet versuchte 1000 Milligramm Remdesivir zu kaufen – er erhielt Angebote für umgerechnet 330 Euro, das Sechsfache des offiziellen Preises.
Auf die Stimmung schlagen auch Unfälle. Diese Woche starben mehr als 20 beatmete Corona-Erkrankte infolge eines undichten Sauerstofftanks in einem Spital in der Stadt Nashik. Mindestens 13 weitere starben bei einem Brand auf einer Intensivstation in Virar.
Schlechte Erfahrungen mit hartem Lockdown
Wie geht es weiter? Auf breite Lockdowns will Premierminister Narendra Modi möglichst verzichten. Denn vor einem Jahr hatte ein harter landesweiter Lockdown zur Massenwanderung von Millionen Wanderarbeitern aus den grossen Städten in die Dörfer geführt, weil sie Angst hatten zu verhungern. Sie trugen damit auch das Virus in die Provinz.
Doch immerhin scheint das Land beim Impfen Tempo machen zu wollen. Indien möchte Impfstoffe schneller zulassen, die von Arzneimittelbehörden einiger reicherer Länder und der EU schon zugelassen worden sind. Und die «Apotheke der Welt» will etwas fast Undenkbares tun: Impfstoffe importieren. (SDA/noo)