Im «Park des Sieges» in Moskau stimmen Russlands Streitkräfte die Menschen schon seit Tagen auf die grosse Militärparade ein: mit einer Trophäenschau mit einem deutschen Leopard-Panzer und anderen Waffen aus Nato-Staaten. «Wir gewinnen auch diesen Krieg», sagt ein Mann, der mit seinem Sohn gekommen ist, um die Kriegsbeute aus der Ukraine zu begutachten. «Geschichte wiederholt sich», steht am Eingang der Ausstellung. Der Slogan schlägt die Brücke zum Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, den Russland am 9. Mai (Donnerstag) gross feiert.
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Zu Tausenden begutachten Zuschauer begeistert die Trophäen, darunter auch ein Marder-Schützenpanzer und US-Abrams-Kampfpanzer. Ein paar Hundert Meter weiter gibt es im Park «Pobedy» (Deutsch: «Park des Sieges») auch eine Dauerschau mit Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg. An Ständen im Park können Besucher, darunter viele Kinder, ein Kalaschnikow-Sturmgewehr auseinander- und wieder zusammenbauen, eine Standard-Soldatenausrüstung prüfen und in einer Feldküche essen.
Parade als Symbol für zunehmende Militarisierung Russland
Russland scheint in diesen Tagen wie im Sieges- und Kriegsrausch. Traditioneller Höhepunkt ist am Tag des Sieges (9. Mai) die Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau mit Tausenden Soldaten, mit Panzern, Raketen und Militärtechnik samt Rede des Oberbefehlshabers der Atommacht, Präsident Wladimir Putin (71). Anderswo im Land sind die Paraden aus Sicherheitsgründen abgesagt worden. Der Kremlchef, der am Dienstag seine fünfte Amtseinführung feierte, dürfte dabei einmal mehr seinen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigen – als Kampf auch gegen den Westen und eine Vormachtrolle der USA.
Offiziell wird mit dem kostspieligen Aufmarsch in Moskau, der stets Hunderttausende Schaulustige anlockt, an den 79. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erinnert. Vor allem aber ist die Parade eine Machtdemonstration. Symbolisch steht sie nun auch für eine zunehmende Militarisierung der russischen Gesellschaft im dritten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – von der hochgefahrenen Kriegswirtschaft bis zu einem neuen militärischen Drill auch für Schulkinder.
Kriegswirtschaft bringt kein natürliches Wachstum
Putin dürfte vor allem Siegeszuversicht versprühen nach den jüngsten, auch von westlichen Militärexperten bestätigten taktischen Erfolgen. Es gehört zu seiner Dauererzählung, dass Russland unbesiegbar sei und auch den westlichen Sanktionen standhalte, die seinen Krieg gegen die Ukraine stoppen sollten. Dabei klagen viele Menschen im Land darüber, dass alles teurer geworden ist.
Die russische Wirtschaft wird von zwei Faktoren getrieben – der Importverdrängung, die vor dem Hintergrund westlicher Sanktionen die Nachfrage nach eigenen Produkten stärkt, und staatlichen Ausgaben, speziell in die Rüstungsproduktion. Regionen mit einer starken Rüstungswirtschaft wie Tula, Rjasan oder auch Nischni Nowgorod hätten im vergangenen Jahr ein überdurchschnittliches Wachstum hingelegt, sagt die renommierte Moskauer Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch. Die Rüstungsbetriebe arbeiten im Dreischichtbetrieb, um die Nachfrage nach Waffen, Munition und Ausrüstung zu decken.
Allein für den Haushaltsposten Verteidigung gibt der Kreml in diesem Jahr umgerechnet etwa 110 Milliarden Euro aus. Hinzu kommen weitere 34 Milliarden Euro für die Bereiche nationale Sicherheit und Sicherheitsorgane. Insgesamt sind das 38,6 Prozent aller Ausgaben des russischen Etats oder 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Militär und Sicherheitsorgane investiert Russland damit erstmals mehr Geld als in Sozialausgaben.
Das Militär ermöglicht damit auch einen sozialen Aufstieg. Die Soldaten werden mit hohem Sold angeworben. Mehr als 2000 Euro verspricht das Verteidigungsministerium den Russen, die in den Krieg ziehen. Gerade in den Regionen ist das ein gewichtiges Argument, liegen die Gehälter dort doch teilweise bei einem Zehntel der Summe. Soldaten werden damit zu Aufsteigern in ihrer Region, die den Konsum ankurbeln, weil sie sich mehr leisten können als andere.
Das derzeitige Wachstum bringt aber strukturelle Probleme mit sich: Der ohnehin bestehende Mangel an Fachkräften wird durch die Fokussierung auf die Kriegswirtschaft noch verschärft. Paradox: Selbst in der traditionell gut zahlenden Ölindustrie fehlen inzwischen Arbeitskräfte, weil im Rüstungssektor und an der Front mehr Geld fliesst. Die Konkurrenz treibt die Löhne in die Höhe, ohne dass die Arbeitsproduktivität steigt. Im Gegenteil: Durch Sanktionen fällt Russland technologisch im internationalen Vergleich zurück. Die Wirtschaft wird damit abhängig vom Krieg – und der Möglichkeit des Staates, diesen zu finanzieren.
Lage an der Front: Minister fordert Tempo bei Angriffen
Verteidigungsminister Sergej Schoigu (68) treibt die Rüstungsindustrie indes immer wieder an – auch bei Besuchen in Produktionsstätten. Nötig seien mehr und qualitativ hochwertige Waffen, darunter vor allem auch Drohnen für die Front, betont er. Der Putin-Vertraute mahnt mit Blick auf die von den USA und anderen Staaten angekündigte Waffenhilfe für die Ukraine zur Eile. «Es ist nötig, das Tempo der Angriffe zu erhöhen», sagt Schoigu bei einer Sitzung mit Militärs in Moskau – und lobt zugleich, allein seit Jahresbeginn seien rund 550 Quadratkilometer ukrainisches Gebiet erobert worden.
Tatsächlich sind die russischen Streitkräfte nach einem Durchhänger im ersten Kriegsjahr, wo sie einige bittere Niederlagen erlebten, wieder in der Offensive. Das hängt zum einen mit der gesteigerten Kriegsproduktion im Inland zusammen, zum anderen damit, dass die Versorgung der Ukraine mit Waffen und Munition monatelang durch deren Hauptverbündeten USA lahmgelegt worden war.
Die Krise ist für Kiew auch nach der Verabschiedung eines US-Hilfspakets über 61 Milliarden Dollar (57 Milliarden Euro) nicht überwunden. Es wird noch dauern, bis die Waffen an der Front ankommen. Viele erfahrene Soldaten sind gefallen. Zudem musste die Ukraine in der Zeit mit Awdijiwka eine wichtige Festung aufgeben. Experten sehen das Land frühestens 2025 wieder imstande, Territorium zurückzuerobern. Russland hingegen hofft nach Einschätzung von Experten im Sommer auf einen Frontdurchbruch und zielt auf die Millionenstädte Charkiw und Odessa.
Militarisierung auch von Kindern und Jugendlichen
Putin, der nun sechs Jahre bis zur nächsten Wahl regieren will, rüstet sich für einen langen Krieg. Ein Ende der Invasion in der Ukraine oder von Moskaus Konfrontation mit dem Westen ist nicht in Sicht.
Vielmehr reicht die Militarisierung inzwischen bis in die Schulen. Russische Medien berichten, dass Kriegsteilnehmer, darunter verurteilte Mörder und Sexualstraftäter, in Schulklassen auftreten und «Lektionen in Mut» erteilen. In sozialen Netzwerken machen Bilder die Runde, wie Mädchen und Jungen im Unterricht schusssichere Westen anprobieren. Eine Mutter in Moskau erzählt, ihre Tochter habe unlängst – wenig begeistert – eine Gasmaske zum Training überziehen müssen.
Landauf, landab öffnen Zentren für vormilitärische Ausbildung, wo Kinder nicht nur Schiessen üben und unterschiedliche Granatenarten kennenlernen. Ausbildung gibt es auch an Drohnen und in Erster Hilfe. «Putin hat die Aufgabe erteilt, eine neue Generation an Patrioten heranzuziehen – wir erfüllen das», sagt Igor Worobjow, Direktor des Zentrums für militärisch-sportliche Ertüchtigung und patriotische Erziehung der Jugend «Woin» in Wolgograd (früher Stalingrad). Die Zielgruppe: Schüler und Studenten, 14- bis 35-Jährige, heisst es auf der Internetseite des Zentrums. Vor allem gehe es darum, sagt Worobjow, die jungen Patrioten gut auf den Kriegsdienst vorzubereiten. (SDA)