Die ukrainische Bevölkerung steht vor einem äusserst unruhigen Sommer. Waren es letztes Jahr noch die ukrainischen Streitkräfte, die mit einer Gegenoffensive das Patt auf dem Schlachtfeld aufbrechen wollten, so ist es heuer Russland, das voranschreitet.
Laut verschiedenen Medienberichten scheint derzeit alles darauf hinzudeuten, dass der Kreml für den Sommer eine gross angelegte Operation auf die ukrainische Millionenstadt Charkiw plant. Zumindest hat dies der russische Aussenminister Sergei Lawrow (74) kürzlich in einem Radiointerview gegenüber mehreren russischen Medien angedeutet.
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Stadt soll zur «entmilitarisierten Schutzzone» werden
Seit Wochen wird Charkiw von Russland mit heftigen Bomben- und Raketenangriffen attackiert. Die Strom- und Wasserversorgung funktioniert nicht mehr. Es scheint daher nicht überraschend, dass Russland Nägel mit Köpfen machen will und bereits in wenigen Wochen die Angriffe weiter intensivieren könnte.
Doch warum ist es gerade Charkiw, das beim russischen Machtapparat auf derartiges Interesse stösst? Will man den Worten Lawrows Glauben schenken, soll die Stadt zur «entmilitarisierten Schutzzone» werden. Dies mit dem Ziel, russische Grenzsiedlungen vor ukrainischen Angriffen zu schützen.
Kampfmoral soll gebrochen werden
Unter Militärexperten kursiert aber noch eine weitere These, die eine mögliche Grossoffensive auf Charkiw erklären könnte. «Charkiw gilt als zweite Hauptstadt der Ukraine, liegt sehr nah an Russland und ist ein bedeutender Industriestandort», erklärt der deutsche Politikberater und Sicherheitsexperte Nico Lange (49) gegenüber «Focus».
Charkiw sei früher der Ort der Produktion moderner ukrainischer Kampfpanzer, von Raketen und weiteren militärisch wichtigen Produkten gewesen, so Lange. «Zudem war die Stadt einer der wichtigsten Universitätsstandorte der Ukraine mit auch militärisch bedeutsamer Forschung und Entwicklung.»
Die Zerstörung der Stadt durch eine mögliche russische Einnahme und die darauffolgende Vertreibung der Bevölkerung wären ein «brutales Signal der Gewalt und der Hoffnungslosigkeit», resümiert Lange. Ihm zufolge scheint es der russische Präsident Wladimir Putin (71) also vor allem auf die vielfach gelobte Kampfmoral der Ukrainerinnen und Ukrainer abgesehen zu haben.
Lawrow deutet weitere Eroberungen an
Doch dass der Russische Bär sich mit Charkiw zufriedengeben wird, darf bezweifelt werden. Eine erfolgreiche Offensive bis hinter die Stadt könnte Russland neue Möglichkeiten im Angriffskrieg gegen die Ukraine eröffnen. Das scheint auch Lawrow bei seiner Planung miteinzubeziehen. «Wir müssen die Linie, von der aus sie (die Ukraine) uns treffen können, zurückverlegen», so der russische Aussenminister. «Ich verstehe, dass Charkiw hier nicht die letzte Rolle spielt.»
Bei all den Strategiespielen stellt sich die Frage, ob die russischen Streitkräfte denn tatsächlich über genug militärische Stärke verfügen, um die Millionenstadt Charkiw einzunehmen. Zwar konnten Putins Truppen jüngst im Kampf um die Siedlung Otscheretyne einige Erfolge feiern. Gemäss Sicherheitsexperte Lange seien jedoch Zweifel angebracht. Um Charkiw zu erobern «müsste Putin dort bis zu 100'000 Soldaten zusammenziehen», wagt er zu prognostizieren.
Auch der ehemalige Nato-Botschafter der USA, Kurt Volker (59), blickt skeptisch auf die Schlagkraft der Russen. «Das russische Militär ist in einem sehr schwachen Zustand, mit schlechter Ausrüstung, Ausbildung, Moral und Führung.»
Sorge um ukrainische Streitkräfte
Trotzdem kommen mehrere Experten zum Schluss, dass es derzeit eher das ukrainische Militär sei, um das man sich Sorgen machen müsse. Gemäss dem Militärexperten Ralph Thiele (70) liege das vor allem daran, dass die russischen Truppen «personell stärker, erfahrener und moralisch gefestigter als zu Beginn des Krieges» seien. Auch dass die russische Kriegswirtschaft mehr Rüstungsgüter als alle 32 Nato-Mitgliedsstaaten produziert, spiele Putin in die Hände.
«Die russische Rüstungsindustrie kann die Armee weiter mit Waffen und Munition versorgen und das noch für geraume Zeit», ist sich auch der österreichische Politikwissenschaftler Gerhard Mangott (57) sicher. Dem gegenüber stehe eine Ukraine, die für ihr Überleben massiv auf ausländische Militärhilfe angewiesen sei.
Nur eine Ukraine, «die wahrhaft russisch ist»
Auch wenn der US-Kongress kürzlich nach langem Hin und Her ein 60 Milliarden Dollar schweres Hilfspaket verabschiedet hat, scheint dies auf russischer Seite zumindest öffentlich niemanden zu beeindrucken.
Aussenminister Lawrow drohte während des Radiointerviews gar, dass es nur eine Ukraine geben werde, «die wahrhaft russisch ist, die Teil der russischen Welt sein will, die Russisch sprechen will und ihre Kinder erzieht.» Die Einnahme von Charkiw scheint also eine weitere Etappe auf dem Weg zur Erfüllung dieses Ziels zu sein.