Aus Russland prasselt derzeit aggressive Rhetorik auf den Westen ein: Vor seiner Amtseinführung am Dienstag verstärkte der russische Präsident Wladimir Putin (71) seine Drohungen gegen einige Nato-Länder. Das russische Verteidigungsministerium teilte am Montag erstmals seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine mit, dass Atom-Übungen in der Nähe der ukrainischen Grenze geplant sind. In der Vergangenheit sprach der russische Machtapparat zwar immer wieder Drohungen gegen den Westen aus. Die offizielle Ankündigung von Atom-Übungen ist aber ein Novum.
«Während der Übungen wird eine Reihe von Massnahmen durchgeführt, um die Vorbereitung und den Einsatz von nicht-strategischen Atomwaffen zu üben», hiess es beim russischen Verteidigungsministerium. Bei nicht-strategischen Atomwaffen handelt es sich um Atomwaffen, die für den Einsatz auf dem Schlachtfeld entwickelt wurden. Das bedeutet, dass sie einen weniger starken Sprengkopf haben und über eine geringere Reichweite als die «strategischen» Atomwaffen verfügen, die die USA und Russland auf das jeweils andere Land abschiessen könnten.
Grossbritannien als Konfliktpartei?
Am Dienstag teilte der russische Telegram-Kanal Intel Slava Z zudem mit, dass Belarus eine mit der Russischen Föderation abgestimmte Überraschungsinspektion von Trägern taktischer Atomwaffen durchführen wird. Unter Berufung auf das belarussische Verteidigungsministerium, schreibt der Kanal, dass entsprechende Massnahmen schon in die Wege geleitet wurden.
Am späteren Montagabend stimmte das Aussenministerium in die Drohkulisse mit ein und gab an, dass die Massnahmen aufgrund von «provokativen Aussagen und Bedrohungen aus dem Westen» getroffen wurden. So wirft Russland Grossbritannien beispielsweise vor, mit Waffenlieferungen an die Ukraine den Einsatz britischer Waffen gegen Russland zu ermöglichen. Der Kreml droht mit «militärischen Angriffen auf dem Gebiet der Ukraine und darüber hinaus». Der Kreml sieht Grossbritannien dadurch «de facto als Konfliktpartei».
Die USA werden von Russland der Lieferung von ATACMS-Kurzstreckenraketen bezichtigt, die angeblich auch Ziele in Russland erreichen könnten. Hier bleibt Russland wenig konkret, verkündet aber, den Ausbau ähnlicher Raketensysteme zu forcieren.
So schätzen Experten die Drohungen ein
Auch im nuklearen Bereich steckt der russische Machtapparat nicht mit Drohungen zurück. Da die Nato-Länder versuchen würden, «die Sicherheit der Russischen Föderation zu untergraben», erinnert das Aussenministerium daran, dass es «Mittel zur nuklearen Abschreckung» – also Atombomben – besitzt. Die nächste Drohung vom Ministerium folgt prompt: Die durch die westlichen Waffenlieferungen «entstehenden militärischen Gefahren» und die «sich daraus ergebenden Bedrohungen für unser Land» seien in Russlands Militärdoktrin und «im Bereich der nuklearen Abschreckung klar umrissen».
Der Zeitpunkt der forcierten Drohungen kommt nicht überraschend. Am Dienstag findet Putins Amtseinführung statt, am Donnerstag feiert Russland «den Tag des Sieges» – an diesem russischen Feiertag wird jeweils dem Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gedacht.
Doch wie ernst sind Putins Atom-Drohungen zu nehmen? Seit dem Jahr 2000 erlaubt Russlands Militärdoktrin den Einsatz von Atomwaffen «als Reaktion auf eine grossangelegte Aggression mit konventionellen Waffen in Situationen, die für die nationale Sicherheit Russlands kritisch sind». Die russische Strategie «Eskalieren, um zu deeskalieren» sieht den Einsatz einer taktischen Atomwaffe auf dem Schlachtfeld vor, um den Verlauf eines konventionellen Konflikts zu ändern, den die russischen Streitkräfte zu verlieren drohen, erklärt US-Experte John Hyten, oberster US-Atomwaffenoffizier, gegenüber US-Medien. Deshalb sei eine genauere Beschreibung der russischen Strategie «eskalieren, um zu gewinnen».
US-Geheimdienst: «Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit US- und Nato-Streitkräften»
Aber: Erst im Februar war in den USA der neueste jährliche Geheimdienstbericht des «Office of the Director of National Intelligence (ODNI)» erschienen. Der Bericht kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Russland werde zwar weltweit seine «asymmetrischen Aktivitäten» fortsetzen. Gemeint sind damit hybride Kriegsführung, beispielsweise Hacking, Spionage-Aktivitäten oder Desinformationskampagnen.
«Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit US- und Nato-Streitkräften», heisst es.
Der Bericht nimmt aber auch zu nuklearer Abschreckung durch Russland Stellung. Aufgrund des Ukraine-Kriegs würden Moskaus Streitkräfte Jahre brauchen, um sich von den umfangreichen Verlusten an Ausrüstung und Personal während des Ukraine-Kriegs zu erholen. «Während dieser Zeit wird Moskau zur strategischen Abschreckung verstärkt auf seine nuklearen Fähigkeiten angewiesen sein», heisst es weiter. (ene)