Plötzlich gibt es einen Knall, Wände fliegen in die Luft, Fenster zerspringen: Am Sonntagabend kam es in der russischen Stadt St. Petersburg im Café «Street Food Bar» zu einer heftigen Explosion. Dabei wurde der prorussische Militärblogger Wladlen Tatarskij (†40) getötet, über 30 Personen wurden verletzt. Die Polizei geht von einem Anschlag auf ihn aus und fahndet nach der mutmasslichen Täterin. Sie soll gegen den Krieg in der Ukraine gewesen sein.
Was ist passiert?
WladlenTatarskij hatte im Café eine Diskussionsrunde unter Militärfans geleitet. Videos in den sozialen Medien zeigen seinen Auftritt, kurz bevor es zum Knall kommt.
Bei der Explosion im Café wurden laut Pressedienst des Gesundheitsministeriums 32 Menschen verletzt, 10 davon schwer. Tatarskij wurde dabei getötet. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Bombe in einer Büste versteckt war.
Eine Frau, die sich als «Anastasia» vorgestellt hatte, hat Tatarskij die Figur überreicht. Die Büste soll laut Augenzeugenberichten ein vergoldetes Abbild von Tatarskij selbst dargestellt haben. Auf Videos in den sozialen Medien war zu sehen, wie sich Tatarskij sein Geschenk anschaut. Wenige Minuten später kommt es zur Explosion. Die Frau soll das Café verlassen und dann den Sprengsatz ferngesteuert gezündet haben.
Wer ist Wladlen Tatarskij?
Wladlen Tatarskij ist ein einflussreicher Militärblogger. Auf Telegram zählt er 560'000 Follower. Tatarskij, dessen echter Name Maxim Fomin ist, wurde durch seine prorussische Haltung im Ukraine-Krieg bekannt.
Der gebürtige Ukrainer hatte sich 2014 den prorussischen Separatisten angeschlossen, nachdem er aus dem Gefängnis geflohen war, wo er seit 2011 wegen eines Banküberfalls sass. 2019 zog der Ukrainer nach Moskau, wo er mit dem Bloggen begann. Seit Kriegsbeginn berichtete er über das Kriegsgeschehen in der Ukraine.
Nachdem Wladimir Putin im September 2022 die Annexion der vier ukrainischen Oblaste verkündet hatte, sagte Tatarskij in einem Video: «Wir werden alle töten, alles kommt, wie wir es wollen. Mit Gottes Hilfe.» Solche Aussagen waren keine Seltenheit. Seit letztem Herbst begann Tatarskij das russische Verteidigungsministerium für die Misserfolge an der Front zu kritisieren.
Handelt es sich um einen Anschlag?
Die Besucher der Veranstaltung im Café berichten von einer Frau, die zu Tatarskij auf die Bühne trat und ihm eine Gipsfigur schenkte. Er soll sie auf einen Tisch gestellt haben, wo später die Explosion losging. «Wegen des Verdachts einer Straftat wird eine unbekannte junge Frau gesucht, die dem Verstorbenen ein Geschenk in Form einer Gipsfigur gemacht hat», sagten die Einsatzkräfte am Sonntag.
Die Behörden gehen deshalb zum aktuellen Zeitpunkt von einem gezielten Anschlag auf Tatarskij aus und ermitteln wegen Mordes. Es wird untersucht, ob es einen Zusammenhang zum Anschlag auf Daria Dugina (†29) gibt, die Tochter von Wladimir Putins Freund Alexander Dugin (61).
Wer ist die verhaftete Frau?
Die verdächtige Darja T.* (26) – die offenbar das Geschenk an Tatarskij überreichte und sich als «Anastasia» vorstellte – wurde am Montagmorgen verhaftet, wie russische Medien berichten. Ihre ersten Worte nach der Festnahme waren: «Ich wurde reingelegt! Ich wurde nur benutzt!», berichtet der Telegram-Kanal «Shot». Ob sie von der Bombe in der Büste wusste, ist unklar.
Kurze Zeit später veröffentlicht das russische Innenministerium ein Video mit der Verhafteten. Ein Mann hinter der Kamera fragt T., ob sie wisse, weshalb sie festgenommen worden sei. «Ich würde sagen, für die Anwesenheit am Tatort, wo Wladlen Tatarskij getötet wurde», antwortet sie. Der Mann will wissen, was sie getan habe. «Ich habe die Büste, die explodiert ist, dorthin gebracht.» Der Mann will von der jungen Frau wissen, von wem sie diese habe. «Darf ich das später erzählen?», lautet ihre Antwort.
Zuvor wurde nach ihr gefahndet. Aufnahmen von Strassenkameras sollen T. zeigen, wie sie eine Kiste in das Café trägt. Am Sonntag wurde in russischen Medien berichtet, dass T. festgenommen worden sei, es handelte sich aber um die falsche Person. Ihre Mutter und Schwester sollen für Befragungen auf die Wache gebracht worden sein.
Laut ihrem Freundeskreis hat die Russin an Versammlungen der Opposition teilgenommen. Am 24. Februar 2022 wurde sie bei einer Anti-Kriegsdemo festgenommen.
T.s Ehemann Dmitri R.* wird ebenfalls gesucht. Er ist Mitglied der «Russischen Libertären Bewegung» und befindet sich im Ausland. Auch T. lebte sechs Monate in Georgien, mietete aber kürzlich wieder eine Wohnung in St. Petersburg.
Was sagt Russland?
Putins Pressesprecher Dmitri Peskow hat den Anschlag am Montag kommentiert: «Das Kiewer Regime unterstützt terroristische Aktionen und könnte hinter der Ermordung von Wladlen Tatarskij und vielen anderen seit 2014 stecken – deshalb läuft die militärische Spezialoperation.»
Die «Street Food Bar» in St. Petersburg gehörte früher dem Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin (61). «Ich hatte das Café der patriotischen Bewegung Cyber Front Z zur Verfügung gestellt», schrieb er nach dem Vorfall auf Telegram.
Er glaube nicht, dass Wolodimir Selenski (45) involviert sei, obwohl Ähnlichkeiten zum Tod von Dugina bestehen würden. «Ich denke, es gibt eine Gruppe von Radikalen, die wahrscheinlich nichts mit der Regierung zu tun haben», fährt Prigoschin fort.
Wie reagiert die Bevölkerung?
Trauernde legten Blumen und Fotos am Tatort nieder. Prorussische Journalisten teilen ihren Unmut und beschuldigen die Politik, nicht hart genug gegen Kriegsgegner vorzugehen. «Wann wird das Land anfangen zu reagieren?», schrieb Tina Kandelaki, stellvertretende Generaldirektorin von Gazprom-Media, auf Telegram. «Die Terroristen haben Strom, Wasser, Eisenbahnen, Restaurants, das Internet funktioniert, die Anführer der Mörder reisen mit Fernsehkameras durch das Land», kritisiert sie.
«Und jetzt? Vergessen wir es? Vergeben wir es?», postete Margarita Simonjan, Chefredaktorin von RT-News.
Was sagt die Ukraine?
Die Ukraine weist die Schuld von sich. Der Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schrieb auf Twitter: «Es beginnt in der Russischen Föderation... Die Spinnen fressen sich gegenseitig in einem Glas. Die Frage, wann der Innenterrorismus zu einem Instrument des innenpolitischen Kampfes werden würde, war eine Frage der Zeit, da ein reifer Abszess durchbrach.»
*Name bekannt