Russland hat mindesten 200'000 Soldaten seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine an der Front eingesetzt. Wie viele bei der «Spezialoperation» gefallen sind, bleibt ein Rätsel. Der Kreml hält sich mit Informationen zurück und schickt gefallene Soldaten auch nicht in ihre Heimat, wo sie bestattet werden könnten. «Solange es keine Leiche gibt, gibt es Hoffnung», werden Angehörige vertröstet, wie das russische Nachrichtenportal «Mediazona» berichtet.
Im September nannte der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) erstmals seit März offizielle Zahlen. «Die Verluste Russlands belaufen sich auf 5937», sagte er. Doch diese Angabe widerspricht den versehentlich veröffentlichten Angaben des kremlnahen Nachrichtenportals «Readovka» im April. Damals war bereits von 13'414 gefallenen Soldaten und etwa 7000 Vermissten die Rede.
Das russische Investigativportal «Istories» hat jetzt die Aussagen eines ehemaligen Offiziers der russischen Spezialeinheit und eines aktiven FSB-Offiziers des russischen Geheimdienstes veröffentlicht. Ihnen zu Folge gab es seit dem 24. Februar beim russischen Militär 90'000 Verluste. Dazu gehören Gefallene, aber auch Vermisste und Verwundete, die nicht mehr zum Militärdienst zurückkehren können.
Diese Zahlen ähneln den veröffentlichten Berichten des britischen Geheimdienstes. Sie gehe von 80'000 gefallenen Russen aus. Laut Angaben der Ukraine beläuft sich die Anzahl gefallener russischer Soldaten auf 63'000.
Russen lassen Leichen einfach zurück
Die Angehörigen der gefallenen Soldaten bleiben ohne Informationen. Sie wissen oft nicht, was mit ihren Liebsten auf dem Schlachtfeld passiert. Über Telegram und über soziale Medien finden Verwandte laut «Mediazone» manchmal Bilder ihrer gefallenen Verstorbenen und damit auch Gewissheit, dass ihr Bruder, Onkel oder Ehemann tot ist. Offiziell heisst es von russischen Behörden meist, die Soldaten würden lediglich «vermisst». Status unklar.
Der russische Staat spart dadurch Geld und Zeit. Denn: Die Leichen der gefallenen Soldaten abzuholen und nach Hause zu schicken, ist ein erheblicher bürokratischer Aufwand. Wenn die Soldaten offiziell tot sind, gibt es eine Sterbeurkunde und eine Abfindung. Doch wo keine Leiche, da kein Dokument und dementsprechend kein Geld. Und die Ungewissheit macht vielen Angehörigen zu schaffen. Sie versuchen daher oft verzweifelt, auf eigene Faust herauszufinden, was mit ihren Liebsten passiert ist. «Viele Menschen aus der Einheit werden vermisst, und den Angehörigen wird immer das Gleiche gesagt: ‹Solange es keine Leiche gibt, gibt es Hoffnung›», erzählt ein Vater, der die Leiche seines Sohnes sucht, gegenüber «Mediazona».
Und es wird noch schlimmer: «Auch wenn Angehörige des Soldaten seine Leiche auf einem Video oder Foto im Internet gesehen haben, erkennt der Staat ihn auf dieser Grundlage nicht als tot an», sagt Sergei Kriwenko, Direktor der russischen Menschenrechtsorganisation Bürger und die Armee. «Dafür ist eine Sterbeurkunde erforderlich.» Erst danach haben die Angehörigen Anspruch auf Zahlungen und Versicherungen. Doch die Leichen bleiben verschollen.