Rechtspopulisten sorgen in Thüringen für Machtwechsel
AfD-Coup schockt Deutschland

Es ist ein politisches Beben, dessen Auswirkungen weit über Thüringen hinausgehen dürften. Völlig überraschend und mit den Stimmen der rechtspopulistischen AfD wird ein FDP-Politiker in dem ostdeutschen Bundesland zum Ministerpräsidenten gewählt.
Publiziert: 05.02.2020 um 14:17 Uhr
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Aktualisiert: 07.02.2020 um 08:28 Uhr
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Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow gratuliert Thomas Kemmerich nicht, sondern wirft ihm den Strauss vor die Füsse.

Thüringen hat einen neuen Ministerpräsidenten. Aber einen ganz anderen, als noch am Morgen erwartet worden war: Der FDP-Chef Thomas Kemmerich setzte sich bei der Abstimmung am Mittwoch im Landtag in Erfurt im entscheidenden dritten Wahlgang durch. Und zwar mit den Stimmen der CDU – und der rechtspopulistischen AfD.

Eigentlich hatte der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) bereits den Koalitionsvertrag mit Grünen und SPD unterschrieben, für eine Minderheitsregierung. Doch es kam anders.

Der von der AfD aufgestellte parteilose Kandidat Christoph Kindervater erhielt im dritten Wahlgang keine Stimme. Stattdessen wurde Kemmerich gewählt. Die Entscheidung zwischen ihm und Ramelow fiel denkbar knapp aus. Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45. Es gab eine Enthaltung.

«Das ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde», sagte der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz im Mitteldeutschen Rundfunk.

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Das Vorgehen wurde sofort scharf kritisiert. Der deutsche SPD-Politiker Kevin Kühnert sprach von einem Tabubruch. Seine Parteikollegin Katarina Barley schrieb auf Twitter: «An diesem Tag habt ihr eure Unschuld verloren, CDU und FDP. Die Linken-Politikerin Susanne Hennig warf sogar aus Protest den Gratulations-Blumenstrauss vor Kemmerichs Füsse.

Die erste Rede des neugewählten Ministerpräsidenten wurde anschliessend von Tumulten und Beschimpfungen überschattet. Es hagelte Zwischenrufe. Dabei wurde Kemmerich unter anderem als Heuchler bezeichnet. Bei seiner Rede schloss Kemmerich eine Zusammenarbeit mit der AfD aus. «Ich bin Anti-AfD, ich bin Anti-Höcke», sagte er.

Seit 2014 Regierungschef

Ramelow war seit 2014 Regierungschef des Freistaats und war der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland. Ramelows Linke hatte zwar mit 31 Prozent die Landtagswahl im Herbst klar gewonnen, doch seine Koalitionspartner SPD und Grünen verloren deutlich.

Er zeigte sich geschockt. «Das war offenbar gut vorbereitet. Eine widerliche Scharade», sagte er gegenüber den deutschen Medien.

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Im Landtag hat Rot-Rot-Grün nur noch 42 von 90 Sitzen. Dennoch hatten die bisherigen Koalitionspartner am Dienstag einen neuen Regierungsvertrag unterschrieben.

Zusammenarbeit mit AfD ausgeschlossen

Christdemokraten und Liberale wollten Ramelow nicht wählen, hatten aber auch kategorisch ausgeschlossen, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Gemeinsam kommen die drei Fraktionen auf 48 Sitze für Mitte-Rechts.

Weil Ramelow keine Mehrheit hatte, hatte auch die AfD mit dem parteilosen Kindervater einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt. Nachdem Ramelow in den beiden ersten Wahlgängen erwartungsgemäss die absolute Mehrheit verfehlt hatte, warf Kemmerich im dritten Wahlgang ebenfalls seinen Hut in den Ring.

Ironie der Geschichte

Es ist eine demokratiefremde Forderung, die Angela Merkel von ihrem Staatsbesuch in Südafrika nach Erfurt schickt. «Das Ergebnis muss rückgängig gemacht werden», so die Kanzlerin. In ihrer Abwesenheit wurde in Thüringen Geschichte geschrieben. In so negativem Sinne, dass Merkel die Ministerpräsidenten-Wahl am liebsten ungeschehen machen würde. Dabei dürfte ihr klar sein: Auch Neuwahlen lassen den Tabubruch von Thüringen nicht vergessen.

Zumal das Szenario Neuwahlen nicht nur im ostdeutschen Bundesland droht, sondern auch auf nationaler Ebene. Der Koalitionspartner wetzt die Messer – und wittert seine Chance. Die SPD sucht als Juniorpartner schon seit Monaten einen Weg aus der ungeliebten Grossen Koalition. Nun stehen die Sozialdemokraten plötzlich auf der richtigen Seite. Ihr empörter Tenor: Die Bösen sind die CDU. Die Guten, das sind wir. Eine weitere Zusammenarbeit? Ausgeschlossen.

Merkel ahnt: Der «unverzeihliche Vorgang» ihrer Partei in Thüringen könnte sie das Amt kosten – und auf den letzten Metern ein unrühmliches Ende hinter 14 Jahre als Kanzlerin setzen. Sie wäre daran nicht unschuldig: In all den Jahren hat sie kein Rezept gegen die Gefahr von rechts gefunden. Die AfD punktete auch dank Merkels Politik und der Tatenlosigkeit ihrer Grossen Koalition.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet ein Pakt mit Rechtsaussen könnte ihre Kanzlerschaft nun abrupt beenden.

Daniel Riedel, Stv. Nachrichtenchef, Blick-Gruppe

Es ist eine demokratiefremde Forderung, die Angela Merkel von ihrem Staatsbesuch in Südafrika nach Erfurt schickt. «Das Ergebnis muss rückgängig gemacht werden», so die Kanzlerin. In ihrer Abwesenheit wurde in Thüringen Geschichte geschrieben. In so negativem Sinne, dass Merkel die Ministerpräsidenten-Wahl am liebsten ungeschehen machen würde. Dabei dürfte ihr klar sein: Auch Neuwahlen lassen den Tabubruch von Thüringen nicht vergessen.

Zumal das Szenario Neuwahlen nicht nur im ostdeutschen Bundesland droht, sondern auch auf nationaler Ebene. Der Koalitionspartner wetzt die Messer – und wittert seine Chance. Die SPD sucht als Juniorpartner schon seit Monaten einen Weg aus der ungeliebten Grossen Koalition. Nun stehen die Sozialdemokraten plötzlich auf der richtigen Seite. Ihr empörter Tenor: Die Bösen sind die CDU. Die Guten, das sind wir. Eine weitere Zusammenarbeit? Ausgeschlossen.

Merkel ahnt: Der «unverzeihliche Vorgang» ihrer Partei in Thüringen könnte sie das Amt kosten – und auf den letzten Metern ein unrühmliches Ende hinter 14 Jahre als Kanzlerin setzen. Sie wäre daran nicht unschuldig: In all den Jahren hat sie kein Rezept gegen die Gefahr von rechts gefunden. Die AfD punktete auch dank Merkels Politik und der Tatenlosigkeit ihrer Grossen Koalition.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet ein Pakt mit Rechtsaussen könnte ihre Kanzlerschaft nun abrupt beenden.

«Unser ganzes Land in Brand gesteckt»

FDP-Parteichef Christian Lindner schloss in einem ersten Statement jede Zusammenarbeit mit der AfD aus, sagte aber: «Wer unsere Kandidaten in einer geheimen Wahl unterstützt, das liegt nicht in unserer Macht.» Man nimmt also die Stimmen von rechts dankend an, mit denen Kemmerich - der Mann der 5%-Partei - zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt wurde.

Der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak fand dagegen klarerer Worte. «Heute ist ein schwarzer Tag für Thüringen», kommentierte er das Wahlergebnis. Die CDU habe immer klar gemacht, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben würde. «Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und hat heute Thüringen politisch und unser ganzes Land in Brand gesteckt», so Ziemiak. Er forderte Neuwahlen.

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Auch CDU-Partei-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich für Neuwahlen ausgesprochen. «Das Präsidium der CDU ist einstimmig meiner Linie gefolgt: Keine CDU-Minister in einem «Kabinett Kemmerich», keine Zusammenarbeit mit der AfD. Am besten sollten die Wählerinnen und Wähler in Thüringen erneut die Wahl haben», schrieb die Parteichefin auf Twitter.

Doch das sieht die Fraktion in Thüringen anders. «Wir sehen unsere Verantwortung darin, Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden», reagierte ein CDU-Sprecher auf die Forderung von Ziemiak.

Auch der deutsche Aussenminister Heiko Maas (SPD) kritisierte die Wahl in Thüringen scharf. «Sich von Rechtsextremen zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen, ist komplett verantwortungslos», schrieb er auf Twitter.

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«Gelb ist das neue Braun»

Ob der FDP-Mann unter diesen bösen Vorzeichen eine tragfähige Regierungskoalition hinbekommt, ist abzusehen. Der Unmut ist gross. Nicht nur bei den Politikern, sondern auch bei den Bürgern. Nach der Wahl des neuen Thüringer Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich von der FDP verlagert sich der Protest auf die Strasse: Am Mittwochabend versammelten sich knapp tausend Menschen vor der FDP-Bundeszentrale in Berlin-Mitte.

«Wer hat uns verraten? Freie Demokraten», skandierten die Teilnehmer unter anderem. Auch im thüringischen Jena demonstrierten nach Polizeiangaben rund 2000 Menschen.

Zu der Kundgebung in Berlin hatten die Landesverbände von SPD, Grünen und Linken aufgerufen. «Alle zusammen gegen den Faschismus», rief die Menge in Richtung der FDP-Zentrale. Zahlreiche Menschen trugen Plakate mit Aufschriften wie «Gelb ist das neue Braun» oder «Stoppt die AfD».

Zu der Kundgebung kam auch die Vize-Chefin der Grünen, Ricarda Lang. «Kemmerich muss zurücktreten», sagte sie der Nachrichtenagentur AFP. Sollte er das nicht tun, müssten die Bundesverbände von FDP und CDU ihren jeweiligen Landesverband in Thüringen ausschliessen. Andernfalls sei der Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU «wertlos», der eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschliesst.

#nichtmeinmp

Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh nahm gemeinsam mit SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci ebenfalls an der Veranstaltung teil.

Ebenfalls für den frühen Mittwochabend gab es Aufrufe zu einer spontanen Kundgebung vor dem Konrad-Adenauer-Haus in Berlin, der CDU-Bundeszentrale. Nach Polizeiangaben folgten dem jedoch nur einige Dutzend Menschen. Viele seien offenbar eher zu der Veranstaltung vor der FDP-Zentrale gegangen, sagte der Polizeisprecher.

Auch in Thüringen riefen die dortigen Grünen unter dem Hashtag #nichtmeinmp für Mittwoch zu Demonstrationen unter anderem in Erfurt, Jena, Weimar und Gera auf. An den Protesten in Jena gegen Kemmerichs Wahl nahmen rund 2000 Menschen teil, wie ein Polizeisprecher sagte. Vor dem Erfurter Landtag prangten Plakate mit Aufschriften wie «Betrug am Wähler». (SDA/bra/jmh)

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