Thüringen bebt. Und mit ihm ganz Deutschland: In mehreren Grossstädten protestierten am Mittwoch Tausende gegen die Wahl von FDP-Politiker Thomas Kemmerich (54) zum Ministerpräsidenten des ostdeutschen Bundeslandes. Kemmerich kam überraschend mit Stimmen der rechtspopulistischen AfD ins Amt. Darauf reagierte selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (65) entsetzt. BLICK beantwortet die neun wichtigsten Fragen zum Wahl-Knall.
Warum regen sich so viele über die Wahl auf?
Kemmerich hat keine Mehrheit im Thüringer Landtag. Die FDP schaffte bei der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 nur knapp die 5-Prozent-Hürde, zog mit nur 73 Stimmen mehr als nötig ins Parlament ein. Nun füllt sie dennoch das wichtigste Amt im Land – unterstützt von Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke (47), Gründer des rechtsnationalen Flügels der AfD. Das weckt Sorge, dass Kemmerich künftig in der «Schuld» von Rechtsaussen Höcke steht. Und das ausgerechnet im historisch belasteten Thüringen: Dort verhalfen bürgerliche Kräfte 1930 Adolf Hitlers NSDAP an die Macht.
Alles zum AfD-Coup
Wie hat die AfD die anderen Parteien ausgetrickst?
Seit der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 gibt es keine stabilen Mehrheitsverhältnisse mehr im Parlament. Das rot-rot-grüne Bündnis unter dem bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) kommt nur noch auf 42 von 90 Sitzen. Ein Mitte-Rechts-Bündnis käme zwar auf eine Mehrheit von 48 von 90 Sitzen, allerdings haben CDU und FDP eine Zusammenarbeit mit Björn Höckes AfD-Fraktion im Vorfeld ausgeschlossen.
Die AfD nutzte jedoch bei der geheimen Wahl zum Ministerpräsidenten aus, dass die FDP als Zeichen gegen eine Wiederwahl des Linken Ramelow einen eigenen Kandidaten aufstellte: Im entscheidenden dritten Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit reicht, stimmten die AfD-Abgeordneten nicht für ihren eigenen Ministerpräsidentenkandidaten Christoph Kindvater, sondern für den von der CDU unterstützten FDP-Politiker Kemmerich.
War der AfD-Coup von langer Hand geplant?
Ein vom «MDR» veröffentlichtes Schreiben des AfD-Rechtsaussen Björn Höcke an FDP-Landeschef Thomas Kemmerich zeigt: Der thüringische Landeschef bot den Liberalen bereits am 1. November eine Zusammenarbeit an. Er wolle die «Blockade» beenden und stellte die Unterstützung einer Minderheitsregierung in Aussicht.
Unterstützung erhält er offenbar aus der Parteispitze: Laut Recherchen deutscher Medien soll FDP-Chef Christian Lindner (41) vorab grünes Licht für eine Wahl Kemmerichs mit AfD-Stimmen gegeben haben.
Wie reagierte Kemmerich auf seine Wahl?
Der frischgewählte Ministerpräsident hat Neuwahlen abgelehnt. «Die Arbeit beginnt jetzt», sagte Kemmerich am Donnerstag im ARD-«Morgenmagazin» ungeachtet der Rufe nach seinem Rücktritt und Neuwahlen auch aus seiner eigenen Partei. Er will eine Minderheitsregierung mit CDU, SPD und den Grünen. Bis auf die Christdemokraten haben ihm allerdings schon alle eine klare Absage erteilt.
Was bedeutet das Thüringen-Beben für die FDP?
Die Liberalen, die nach vierjähriger Abwesenheit erst seit 2017 wieder im Bundestag vertreten sind und sich ihre Rolle in vielen Landesparlamenten mühsam erkämpfen müssen, kommen nicht gut weg. Eine Quittung für die indirekte Kooperation mit den Rechtspopulisten könnte die FDP bei der Bürgerschaftswahl am 23. Februar in Hamburg erwarten.
Während sich die CDU-Spitze um Annegret Kramp-Karrenbauer (57) umgehend gegen Kemmerichs Wahl ausgesprochen hat, sagte FDP-Parteichef Christian Lindner (41) am Mittwoch: «Wer unsere Kandidaten in einer geheimen Wahl unterstützt, das liegt nicht in unserer Hand.»
Nach dem Gegenwind aus den bürgerlichen und linken politischen Lagern macht Lindner offenbar auf dem Absatz kehrt: Wie «Zeit Online» am Donnerstag unter Berufung auf Parteikreise berichtet, will der FDP-Chef seinen Parteikollegen Thomas Kemmerich zum Rücktritt von seinem Amt als Ministerpräsident auffordern.
Was bedeutet das Thüringen-Beben für die CDU?
Die Ministerpräsidentenwahl zeigt einen sichtbaren Riss zwischen dem Landesverband und dem Bundesverband. Während der Bundesverband eine Zusammenarbeit mit der AfD immer ausgeschlossen hatte, hatten Mitglieder der CDU Thüringen nach der Landtagswahl appelliert, auch das Gespräch mit der AfD zu suchen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen mit den Stimmen der AfD einen «einzigartigen Vorgang», der «mit einer Grundüberzeugung» der CDU gebrochen habe. «Da das absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist.» Deshalb müsse das Ergebnis «rückgängig gemacht» werden. Jedenfalls dürfe sich die CDU nicht an einer Regierung beteiligen, die auf diese Weise zustande gekommen sei.
Hat Merkels Thronprinzessin ihren Laden nicht im Griff?
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer (57) hatte sowohl die CDU in Thüringen als auch FDP-Chef Christian Lindner vor einer möglichen «AfD-Volte» und dem Reputationsschaden gewarnt. Das sagte sie am Mittwoch dem «ZDF». Statt sich im entscheidenden dritten Wahlgang zu enthalten, nahmen die Abgeordneten das Risiko aber offenbar bewusst in Kauf, um eine Wiederwahl des Linken Ramelow zu verhindern.
Welchen Ausweg gibt es?
Nachdem SPD und Grüne eine Koalition unter Kemmerich ausgeschlossen hatten, bleibt diesem nur eine von der AfD gestützte Minderheitsregierung. Der CDU-Landesverband in Thüringen hat sich noch nicht klar positioniert – dürfte allerdings vor der geschlossenen Reaktion der CDU-Spitze einknicken.
Wahrscheinlicher sind darum Neuwahlen.
Was braucht es für Neuwahlen?
Die Landesverfassung nennt zwei Möglichkeiten:
1. Ein Antrag müsste von mindestens einem Drittel der Thüringer Abgeordneten beschlossen werden. Dafür würden die Stimmen von Linke, SPD und Grüne locker reichen. Für den Antrag müssten dann mindestens zwei Drittel der Abgeordneten (60 von 90) stimmen. SPD, Grüne und Linke haben zusammen 42 Stimmen. Fast alle 21 CDU-Abgeordneten müssten sich also ebenfalls dafür aussprechen. Die FDP hat 5, die AfD 22 Abgeordnete im Landtag.
2. Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) könnte selbst die Vertrauensfrage stellen. Das ist allerdings unwahrscheinlich – schliesslich bekräftigte er am Donnerstag erneut seine Pläne zur Bildung einer Regierung.