CNN-Moderator Van Jones stellte kurz nach dem Sturm auf das Kapitol die entscheidende Frage: «Ist dies das Ende von etwas oder ist es der Anfang?» Es mögen die letzten Episoden von Donald Trumps Amtszeit gewesen sein. Seine rechtsextremen Fusstruppen aber werden bleiben. Und damit das faschistische Klima in Teilen der US-Bevölkerung.
In einer Videobotschaft gestand Trump am Freitag zwar erstmals die Niederlage ein, rief seinen Anhängern aber gleichzeitig zu: «Ich will, dass ihr wisst, dass unsere unglaubliche Reise gerade erst beginnt.» Der Satz darf als Drohung verstanden werden.
Als Drohung, ja als Fanal, muss auch der Sturm auf das Kapitol in Washington gesehen werden. Die militante Avantgarde der Trump-Fans drang ins Herz des amerikanischen Parlamentarismus ein – eine Kriegserklärung an die Demokratie.
Vielen Eindringlingen ging es dabei um weit mehr als nur eine weitere Amtszeit von Trump. Sie wollen nichts weniger als den Umsturz, eine Revolution, «die Elite» und alle Andersdenkenden hinwegfegen. Die meisten Militanten haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie sie sich das vorstellen. Bei einigen war es sogar weiss auf schwarz zu lesen – auf ihren Pullovern, die es im Vorfeld der Demonstration zu kaufen gab: «Civil War, 6 January, 2021». Bürgerkrieg also.
Mark Potok haben weder die militante Rhetorik noch die Gewalt überrascht. Der langjährige Forschungschef des Southern Poverty Law Centers (SPLC), einer Organisation, die Amerikas Hassgruppen beobachtet, gilt als kundigster Kenner der radikalen Rechten in den USA. Er warnt: «Die Vereinigten Staaten stehen am Scheideweg. Die Demokratie ist in Gefahr.»
Faschisten unter den Republikanern
Die grösste Bedrohung für das Land gehe derzeit von der extremen Rechten aus, die in ihrer Natur zutiefst faschistisch sei. Dazu zählt der Forscher auch Teile der republikanischen Partei. Und der neu gewählte Präsident Joe Biden? Potok glaubt nicht, dass die Gefahr mit seinem Sieg gebannt ist.
Doch wie kam es überhaupt so weit? Die Zunahme der rechten Gewalt fällt mit zwei Ereignissen zusammen, die das Land tiefgreifend verändert haben. Zum einen die Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen US-Präsidenten. Kaum ein Ereignis in der Geschichte der USA stellte die weisse Vorherrschaft so offensichtlich infrage. Als Folge schoss die Zahl der rassistischen Gruppen in die Höhe.
Zum anderen der Einzug von Donald Trump ins Weisse Haus. Er führte die Inhalte der Extremisten von den gesellschaftlichen Rändern in die etablierte Politik. Experte Potok nennt das den «Trump-Effekt»: «Die Ideologie der radikalen Rechten hielt Einzug in den Mainstream – in die republikanische Partei, Teile der Medien, in die Sicherheitsbehörden und in die Köpfe der gewöhnlichen Menschen.»
Trump liess jenes toxische Gemisch von der Leine, das am Mittwoch das Kapitol stürmte: Neonazis, Verschwörungsfanatiker, nationalistische Milizen – Leute wie Nick Ochs, der auf Twitter ein Selfie aus dem Kapitol postete, lachend, mit brennender Zigarette im Mund. Ochs ist einer der Köpfe der rechten Miliz «Proud Boys». Bei einer TV-Debatte rief Trump die bewaffnete Gruppierung im September dazu auf, sich bereitzuhalten.
Unter den Parlamentsbesetzern waren aber auch Leute wie Derrick Evans, republikanischer Abgeordneter im Parlament des US-Bundesstaats West Virginia. Evans filmte sich selber, wie er ins Kapitol eindrang, mit Helm und jubelnd: «Wir gehen rein!»
Allen voran ein QAnon-Anhänger
Am meisten Aufmerksamkeit erregte jedoch der bizarre Auftritt von Jake Angeli, der Mann mit nacktem Oberkörper und gehörnter Pelzmütze. Der Neonazi ist Anhänger der Verschwörungsbewegung QAnon, die das FBI als Terrorgefahr einstuft.
Die Theorien von QAnon, nach denen eine geheime, pädophile Elite die Welt beherrscht, spielen eine zentrale Rolle in der Radikalisierung der Szene. Hunderttausende Amerikaner glauben an diese Erzählung. In Onlinenetzwerken der Verschwörer wurde seit Wochen zum Sturm aufs Kapitol gerufen.
Jake Angeli, der Randale-Wikinger, schaffte es mit seinem karnevalesken Auftritt auf die Titelseiten der Weltmedien. Sein Erscheinungsbild täuscht allerdings darüber hinweg, wie gefährlich und gut organisiert die Kapitol-Stürmer sind. Viele trugen denn auch keine albernen Kostüme, sondern Helme, kugelsichere Westen und Tarnkleidung. Das FBI geht Hinweisen nach, wonach es Pläne gab, Abgeordnete als Geiseln zu nehmen. Mehrere Eindringlinge hatten Kabelbinder und Pistolen dabei. Und der Mob schrie: «Hängt Mike Pence!» Trumps Vize hatte die Wahl von Joe Biden zuvor für rechtens erklärt.
Neben den grossen, organisierten Gruppen beteiligten sich auch Tausende Einzelkämpfer an den Aktionen in Washington. Zu ihnen gehört jener Mann, der in einem schwarzen Kapuzenpullover mit der Aufschrift «Camp Auschwitz – Arbeit macht frei» fotografiert wurde. Oder Neonazis mit Aufnähern mit dem Code 6MWE, eine Abkürzung für «6 Millionen waren nicht genug» – eine Anspielung auf den Massenmord der Nazis an den Juden.
Am Mittwochabend – die Ausschreitungen rund um das Kapitol waren gerade im Gange – wandte sich Trump in einer Videobotschaft an all diese Leute und versicherte ihnen: «Wir lieben euch. Ihr seid etwas Besonderes.» Schmeicheleien für Extremisten. Vier Jahre lang heizte Trump der Szene ein, flankiert von mächtigen Republikanern.
Trump ruft zum Protest auf
Am 19. Dezember schliesslich, zum Abschluss seiner Amtszeit, zündete er die nächste Eskalationsstufe. Auf Twitter kündigte er an: «Grosser Protest in Washington am 6. Januar. Seid da, es wird wild!» Seine Anhänger nahmen ihn beim Wort.
Ist der Sturm aufs Kapitol erst der Anfang? Rechtsextremismus-Kenner Potok ist überzeugt: «Die USA stehen am Beginn einer Ära politischer Gewalt. Die Wahrscheinlichkeit von Aufständen steigt.»
Die militanten Rechten werden bleiben – und notfalls auch ohne Trump weitermachen. Laut einer aktuellen Umfrage von YouGov begrüssen 45 Prozent der Republikaner, was in Washington passiert ist.
Richard Barnett, ein nationalistischer Waffennarr, der es sich bei der Besetzung mit breitem Grinsen und den Füssen auf dem Schreibtisch auf dem Sessel der Demokratin Nancy Pelosi gemütlich machte, hinterliess der Sprecherin des Repräsentantenhauses eine Karte.
Darauf kritzelte er in Grossbuchstaben: «We will not back down» – wir werden nicht zurückweichen.