Auf einen Blick
Staatsoberhäupter und Verteidigungsminister aus über 20 Staaten – darunter Deutschland, England, Frankreich und die USA – wollten an diesem Samstag in Deutschland ein wichtiges Zeichen für die Ukraine setzen. Bei der Ramstein-Konferenz sollte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) seinen «Siegesplan» vorstellen und weitere militärische Unterstützung der Verbündeten erhalten. Sollte – denn der Anlass fällt ins Wasser. US-Präsident Joe Biden (81) sagte seine Teilnahme aufgrund von Hurrikan Milton ab. Prompt wurde der ganze Anlass abgeblasen. Zwar soll der Termin nachgeholt werden, es ist aber noch nicht klar, wann. Gleichzeitig tickt für die Ukraine die Uhr.
Die Absage der Ramstein-Konferenz stellt die Ukraine vor erhebliche Probleme. Die Front gegen Russland bröckelt. Laut der italienischen Tageszeitung «Corriere della Serra» ist Selenski sogar zu einem Waffenstillstand entlang der aktuellen Frontlinien bereit. Aber nur unter der Bedingung, dass die USA der Ukraine «eine Sicherheitsgarantie» geben – nach dem Vorbild derer, die die Amerikaner für Japan, Südkorea und die Philippinen haben. Die Ukraine dementiert entsprechende Medienberichte. Fakt ist aber: An der Front sieht es so schlecht aus für Selenskis Truppen, dass er es sogar riskiert, dass Wladimir Putin (71) einen Teilsieg – den Waffenstillstand – erringen kann.
Wer gewinnt den Abnutzungskrieg?
Zwar gelang es den ukrainischen Truppen mit der Kursk-Offensive vor zwei Monaten, rund 1300 Quadratkilometer in Russland zu besetzen. Doch das ukrainische Kalkül ging nicht auf: Russland verlegte kaum Truppen aus dem Donbass nach Kursk. Deshalb stehen die ukrainischen Verteidiger entlang der Front vor grossen Problemen. Durch die Verlegung ukrainischer Truppen nach Russland hat das russische Militär im Donbass nun personell und materiell einen klaren Vorteil.
Angesichts dessen musste sich die ukrainische Armee in den letzten Wochen immer wieder aus strategisch wichtigen Ortschaften zurückziehen. Zuletzt gab die Ukraine im Oktober die Ortschaft Wuhledar in Donezk auf. Dadurch konnten russische Truppen in verschiedene Richtungen vorstossen – und stehen kurz vor der Eroberung der strategisch wichtigen Ortschaften Kurachow und Pokrowsk. Ein herber Schlag für die Ukraine.
Einige Militärexperten wollen hier aber einen gewieften Plan der Ukraine erkennen. Der US-Militärexperte Rob Lee erklärte gegenüber der «Washington Post», dass am Ende derjenige gewinne, der seine Verluste eher aushalten könne. «Ab welchem Punkt wird dies unhaltbar oder führt zu politischen Problemen für eine Seite?» Also: Wer mehr Ressourcen aufwendet, verliert. Die These: Mit seiner «Fleischwolf»-Taktik verbrennt Russland bei diesen Vorstössen seine Ressourcen ziemlich schnell.
Ramstein-Konferenz war die letzte Chance
Obwohl Russland laut dem «Open Source»-Projekt Onyx in den vergangenen zwölf Monaten 1830 Einheiten vom schwerem Kriegsgerät verloren hat – das entspricht laut der US-Denkfabrik ISW der Ausrüstung von «mindestens fünf Divisionen» –, hat die Ukraine den Abnutzungskrieg noch nicht gewonnen. Roman Kostenko (40), Sekretär des ukrainischen Verteidigungsausschusses, warnte sogar, die Armee könne bald die Verluste an der Front nicht mehr ausgleichen. Die Ukraine braucht dringend Munition und schwere Waffen, um sich weiter gegen Russland zu verteidigen. Russland könnte den Abnutzungskrieg doch gewinnen – diese Sorge hat wohl auch Selenski.
Und hier kommt die abgeblasene Ramstein-Konferenz ins Spiel. Für Selenski wäre es sehr wichtig gewesen, seine Anliegen vor seinen Unterstützern vortragen zu können. Besonders die USA muss der ukrainische Präsident bei der Stange halten – und sich noch vor den US-Wahlen am 5. November so viel Unterstützung wie möglich sichern. Die Ramstein-Konferenz wäre das optimale Format dafür gewesen – wenn diese erst nach den US-Wahlen nachgeholt wird, könnte es schwierig werden für die Ukraine.
Wieso wurde die Konferenz abgesagt?
Generell haben die Amerikaner immer weniger Interesse am Krieg in der Ukraine. Sollte Kamala Harris (59) im November gewählt werden, wird es ihr schwerfallen, im nächsten Jahr Mehrheiten für ein neues Hilfspaket im Kongress zu organisieren. Bereits jetzt stellt sich der Kongress quer, wenn es um weitere Ukraine-Hilfe geht. Ganz zu schweigen davon, der Ukraine ein Schutzversprechen zu geben. Ähnlich, wenn nicht sogar schlimmer, sähe es für die Ukraine bei einem Sieg von Donald Trump (78) aus.
Die Folge: Es kommt mehr denn je auf die Europäer an. Tatsächlich entschieden die EU-Staaten am Donnerstag, ob sie ein 35-Milliarden-Euro-Darlehen für die Ukraine in die Wege leiten. Es wirkt deshalb komisch, dass die Europäer die anderen Teilnehmerstaaten der Ramstein-Konferenz nicht einfach selbst versammeln, auch ohne die USA. Denn dass Selenski seine Themen nun bilateral mit europäischen Staatsoberhäuptern besprechen kann, ist nicht das erhoffte grosse Signal für eine grosse Unterstützung der Ukraine.