Ein Sieg in wenigen Tagen, wie ihn sich Präsident Wladimir Putin (71) vorstellte, gelang der russischen Armee nach dem Überfall auf die Ukraine nicht. Stattdessen machten die Truppen eine Reihe Fehler, die sie Waffen und Soldaten kostete. Doch aus Fehlern lernt man. Die Reihe an peinlichen Pannen an der Front sei vorbei, so der australische Ex-General und Militärstratege Mick Ryan in einer Analyse der aussenpolitischen Zeitschrift «Foreign Affairs». Russland ist 2024 seiner Ansicht nach strategisch im Vorteil.
Nach dem Überfall schaffte Kiew es in kürzester Zeit, neue Kampfmethoden zu entwickeln. «Russland hingegen tappte im Dunkeln: ein grosser, arroganter und schwerfälliger Bär, der sich eines schnellen Sieges zu sicher war», so Ryan. Mittlerweile habe sich das Blatt aber gewendet, erklärt er.
«Das Qualitätsgefälle zwischen der Ukraine und Russland hat sich verringert», so der Militäranalyst. Der grosse Vorteil der Ukraine bleibt die Militärstruktur. Dank ihr kommen neue Techniken und Waffen schnell in den Einsatz. Allerdings könne die Ukraine nicht sicherstellen, dass diese Techniken überall ausgeführt werden.
Elitetruppen unterstützen schlecht ausgebildete Soldaten
Auf russischer Seite werden Rückschläge selten gemeldet. Wenn aber Lehren aus Fehlern gezogen werden, dann können diese auf breitem Band im gesamten Militär und in der Rüstungsindustrie systematisch umgesetzt werden. Russland hat in den vergangenen Monaten vor allem in der Ostukraine Gebiete erobert.
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Es gab keine unkoordinierten, spontanen Attacken mehr, sondern getaktete Angriffe. Zu Beginn des Krieges entsandte Russland Bataillone, bestehend aus Luft- und Bodentruppen. Diese waren aber zu klein und zu schwach, sodass es viele Verluste gab. Im vergangenen Jahr kombinierte die russische Armee Elitetruppen mit schlecht ausgebildetem Fussvolk.
Dadurch greift ein sogenannter «Fleischsturm» an. «Wellen von schlecht ausgebildeten Einwegkräften, die ukrainische Soldaten überwältigen und erschöpfen können, bevor talentiertere russische Truppen eintreffen», beschreibt Ryan dieses Vorgehen, das Wagner-Kämpfer etablierten. Die Ukraine trifft mit ihren Präzisionsraketen nun nicht mehr so gezielt Truppen, weil sich diese auf dem Feld verteilen.
Russland baute die Verteidigungslinien Ende 2022 bis Anfang 2023 aus. Jegliche Anstrengungen der Ukraine, die Linien zu durchbrechen, zeigten kaum Wirkung – trotz der ausgezeichneten Ausbildung.
Russland hat Drohnen und Streumunition auf Lager
Die Ukraine hat ausgezeichnete Drohnenpiloten ausgebildet – doch auch das nützt laut Ryan mittlerweile wenig. «Heute ist Moskau der Ukraine in Sachen Drohnen und Streumunition überlegen.» Denn die Sanktionen umgeht Putin, indem Ersatzteile im Ausland besorgt werden. Fahrzeuge werden durch Panzerungen geschützt, die durch Drohnen nicht zerstört werden können. Laut Ryan war der verbesserte Umgang mit Drohnen der Hauptgrund dafür, dass die Gegenoffensive der Ukraine scheiterte.
Der entscheidende Vorteil der russischen Armee: Der Staat hat verstanden, wie Ressourcen am besten genutzt werden. Das ist laut Ryan «für das Gewinnen von Kriegen am wichtigsten». Mit den Jahren könne Moskau eine effektivere und moderne Streitmacht aufbauen. Die Ukraine konnte im vergangenen Jahr kaum etwas zurückerobern und hat sogar weitere Gebiete an Russland verloren.
Auch die Ukrainer hätten ihre Fähigkeiten aber weiter verbessert. In Langstreckenangriffen sei man wesentlich besser geworden. «So hat die Ukraine im vergangenen Jahr die Fähigkeit entwickelt, zusätzliche Langstreckenangriffe auf russische Flugplätze, Rüstungsbetriebe und Energieinfrastruktur durchzuführen», beschreibt Ryan. Und auch die Seeflotte ist ins Visier der Ukraine geraten. Immer mehr russische Schiffe der Schwarzmeerflotte sinken dank Seedrohnen auf den Meeresgrund.
Angriffe auf Charkiw bis März geplant
Das Problem laut dem Experten: «Wie in anderen Bereichen auch, wird sich Russland wahrscheinlich an die ukrainischen Entwicklungen anpassen.» Es sei dringend notwendig, dass die Ukraine lernt, Rückschlüsse aus der Front auf breiter Ebene durchzusetzen und mehr Informationen auszutauschen. Bevor Russland Lehren aus dem Schlachtfeld ziehen kann, müsse die Ukraine bereits Schwachstellen ausnutzen.
Die Zeit drängt. «Die Russische Föderation plant, bis März 2024 die gesamten Gebiete Donezk und Luhansk sowie einen Teil des Gebiets Charkiw bis zum Fluss Oskil einzunehmen», sagt das ukrainische Zentrum für Verteidigungsstrategien. Das ist kein zufälliger Zeitpunkt – denn im März finden auch die Präsidentschaftswahlen statt. Wie «Forbes» schreibt, haben die russischen Streitkräfte bereits in Kupjansk begonnen.