Es ist kein Geheimnis: Es steht schlecht um Wladimir Putins Offensive in der Ukraine. In den vergangenen Wochen haben ukrainische Truppen immer wieder Erfolge erzielt, zuletzt wurden die Russen rund um die strategisch wichtige Stadt Lyman zurückgedrängt. Russlands aktuelle Rolle als Verlierer auf dem Schlachtfeld hat zur Folge, dass sich seine eigene Propaganda-Maschine gegen ihn und die Propagandisten sich gegen einander wenden.
Gleich aus drei für Putin wichtigen Gruppen hagelt es Kritik, wie das «Institute for the Study of War» (ISW) berichtet: russische Militärblogger, Kriegsveteranen und Ex-Militärvertreter und zuletzt die «Silowiki», d.h. ranghohe Politiker, Geheimdienstler und Militärs, die durch Putin an die Macht gelangten. Sie alle sind mit den aktuellen Entwicklungen nicht zufrieden und machen sich gegenseitig und die russische Regierung für die Schlappe verantwortlich.
Putin braucht sie eigentlich alle drei, damit die Propaganda-Maschine weiterhin gut geölt läuft. Die Militärblogger sorgen für die eigentliche Propaganda, die Veteranen rekrutieren neue Soldaten und die Silowiki stellen die militärische Kraft auf dem Schlachtfeld bereit.
Kadyrow schiesst gegen Generaloberst
Ramsan Kadyrow (46), der Präsident von Tschetschenien und «Putins Bluthund», machte den russischen Generaloberst Alexander Lapin für die Niederlage in Lyman verantwortlich. «Lapins mangelndes Talent ist nicht das Schlimmste, sondern die Tatsache, dass die Spitzenleute des Generalstabs ihn decken», schrieb Kadyrow. «Wenn es nach mir ginge, würde ich Lapin zum Gefreiten degradieren, ihm seine Medaillen abnehmen und ihn mit einem Gewehr an die Front schicken, um seine Schande mit seinem Blut abzuwaschen.»
Unterstützung bekommt Kadyrow von keinem anderen als Jewgeni Prigoschin (61), dem Geldgeber und Gründer der privaten Gruppe Wagner – auch bekannt als «Putins Koch». «Gut gemacht, Ramsan, du bist der Grösste», so Prigoschin auf Telegram. Auch dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) und anderen Militärveteranen ging es an den Kragen – zu veraltet sei die Kriegsführung in der Ukraine.
Veteranen wollen klassische Kriegsführung
Die Veteranen wiederum richten ihren Zorn über die aktuellen Entwicklungen direkt gegen Putin. Bereits seit Monaten habe diese Gruppe eine Teilmobilmachung gefordert. Nun sei es zu spät, so die Veteranen. Und zu chaotisch. Waleri Gerassimow (67), der oberste russische Militärbefehlshaber, machte deutlich, dass er sich bereits zuvor beschwert habe – seine Bedenken seien allerdings ignoriert worden.
Den Vorwurf der Silowiki weisen die Veteranen allerdings zurück. Ihre Kriegsführung – die von den mächtigen Militärs als «veraltet» bezeichnet wird – sei genau das richtige Mittel, um in der Ukraine Erfolge zu erzielen.
Blogger streiten untereinander
Direkt untereinander zoffen sich die Militärblogger. Lyman, Kadyrow und Prigoschin sorgen für Diskrepanzen in der russischen Blogosphäre.
Man wirft einander vor, nicht für die Kriegsberichterstattung geeignet zu sein, russische Kommandeure viel zu stark zu kritisieren und sich nicht mehr auf die Fakten zu konzentrieren. Einig ist man sich nur in einem Punkt: Die Silowiki müssen kritischer beleuchtet werden.
Putin kann nicht alle glücklich machen
Den russischen Machthaber bringt das in ein gefährliches Dilemma. Denn er kann keine dieser drei Gruppen verprellen – andererseits kann er so auch niemanden glücklich machen. Die Silowiki wollen eine moderne Kriegsführung, die Veteranen das Gegenteil und die Militärblogger unterstützen die Forderungen jeweils teils, teils. Was kann er also überhaupt tun? Wie «Focus» schreibt, stehen Strafen gegen Kadyrow und Prigoschin noch aus, stattdessen macht der Kremlchef Alexander Schurawljow, den Chef des westlichen Militärbezirks, für die Schlappe in Lyman verantwortlich.
Fakt ist laut dem «ISW»: Die Zersplitterung der Nationalisten – der Silowiki, der Blogger und der Veteranten – könnte grosse innenpolitische Unruhen auslösen. «Vielleicht könnten sie sogar Putins Regime schwächen», heisst es. Die Schlussfolgerung: «Nun werden die sich vertiefenden Risse für alle Russen ersichtlich. Womöglich vermittelt dies den Eindruck, Putin habe seine Basis nicht mehr im Griff. Die Auswirkungen einer solchen Entwicklung für sein Regime sind allerdings schwierig vorherzusagen.»