Am 9. Mai feiert Russland seit 77 Jahren das Ende des Zweiten Weltkriegs und somit den Sieg über Nazi-Deutschland. Für Präsident Wladimir Putin (69) ist es gar der wichtigste Feiertag seines Landes. Seit er seinen Angriffskrieg in der Ukraine gestartet hat, wird vermutet, dass er aus diesem Grund am 9. Mai einen grossen Sieg in der Ukraine feiern will – und diesen auch dringend braucht.
Doch ein Sieg bis zu diesem Tag ist laut Experten unwahrscheinlich. Zu angeschlagen ist die russische Armee, zu früh wurde sie in den Angriffskrieg geschickt.
Und genau deswegen befürchten Kriegsanalysten, dass Putin am 9. Mai gar keinen Sieg in der Ukraine verkünden will. Vielmehr gehen sie davon aus, dass der Kreml-Chef etwas anderes im Sinn hat: Den Beginn einer Grossoffensive, wie sie in diesem Krieg noch nicht zu sehen war.
Keine «militärische Spezialoperation», sondern «Krieg»
Zu diesem Schluss kommen unter anderem die Analysten Jack Watling und Nick Reynolds vom britischen Royal United Services Institute (RUSI) in ihrem Bericht, wie «Focus» schreibt. In der Analyse heisst es: «Der 9. Mai hat sich von einer Deadline für den Sieg in einen Beginn einer riesigen Mobilisierung verwandelt.» Der Grund für die Grossoffensive im Sommer ist laut Watling und Reynolds naheliegend: Putin brauche Zeit, um seine Ziele im Osten und Süden der Ukraine zu erreichen.
Dass russische Truppen tatsächlich bis zum 9. Mai so weit vorrücken können, dass Putin einen Sieg oder zumindest Teil-Sieg verkünden könnte, scheint laut den beiden Kriegsexperten unwahrscheinlich. Daher gehen die Analysten davon aus, dass Putin am «Tag des Sieges», eine grosse Zahl von Soldaten für einen grossen Angriff mobilisieren könnte.
Ein Kurswechsel steht bevor. Die bisherige Propaganda könnte sich ebenfalls ändern. «Es könnte der Tag sein, an dem die russische Führung nicht mehr von einer ‹militärischen Spezialoperation› spricht, sondern von einem ‹Krieg›.»
Russischer Aussenminister warnte bereits vor drittem Weltkrieg
Erste Anzeichen einer Veränderung in der Kriegsrhetorik gebe es bereits, so die Experten. Laut Aussagen der russischen Militärelite gehe es «schon längst» um einen Konflikt mit der Nato.
Auch der russische Aussenminister Sergei Lawrow (72) betonte zuletzt, dass die Nato einen «Stellvertreterkrieg in der Ukraine» führe. Lawrow war es auch, der vor einer Eskalation bis hin zu einem dritten Weltkrieg warnte.
Grund für seine Aussage war allerdings nicht nur die Situation an der Front in der Ukraine, sondern auch die zunehmenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen. «Die Gefahr ist ernst, sie ist real, sie darf nicht unterschätzt werden», sagte der 72-Jährige in einem Interview im russischen Fernsehen, das vom Aussenministerium am Montagabend bei Telegram geteilt wurde. Doch er betont auch, dass sein Land bestrebt sei, das Risiko eines Atomkriegs zu verringern.
Direkter Kriegseingriff der USA bald nicht mehr vermeidbar
Eine ähnliche Prognose stellen auch Experten des Zentrums für europäische politische Analyse (Cepa) auf, wie «Focus» weiter schreibt. In einem Bericht heisst es: «Russlands Militär glaubt, dass es ein Fehler ist, die Ziele des Kriegs zu begrenzen. Sie argumentieren, dass Russland nicht die Ukraine bekämpft, sondern die Nato.» Hohe Vertreter des russischen Militärs und Geheimdienstes sollen unzufrieden mit Putins Strategie in der Ukraine sein. Sie fordern einen totalen Krieg.
«Es könnten Drohgebärden der Russen sein. Aber es könnte auch stimmen, und Putin ändert seinen Kurs tatsächlich. Das Risiko eines solchen Szenarios darf nicht ignoriert werden», schätzt Michael Mazarr (56), Verteidigungsexperte beim US-Thinktank Rand Corporation, die neue Theorie des Cepa ein.
Mazarr stellt auch ein düsteres Szenario in Aussicht: Kommt es tatsächlich zu einer nie dagewesenen Grossoffensive der Russen, hätte das schwerwiegende Folgen für die USA und die Nato. Wenn das geschehe, sei ein direkter Kriegseingriff durch die USA nicht mehr vermeidbar. (chs)