In seiner täglichen Videoansprache hat sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) am Sonntag an Russen gewandt. Schweigen komme einer Mitschuld gleich, sagte er. «Schweigen kommt Komplizenschaft nahe.» Wer schweige und sich «nicht gegen das Böse einsetzt», so Selenski, der «unterstützt den Krieg».
Selenski mag mit seinen Worten den Finger auf Wunden in der russischen Bevölkerung gelegt haben. Denn offenbar scheinen auch in Russland Zweifel an Moskaus militärischem Vorgehen im südwestlichen Nachbarland zu wachsen.
Der russische Spitzenökonom Andrei Jakowlew sagt, es gebe in Russland keine Gewinner mehr, nur noch Verlierer. Dies könne zu Spannungen in der Elite führen, die Präsident Wladimir Putin soweit stützt. Jakowlew ist überzeugt, dass Putins Rückhalt zu bröckeln beginnt.
«Sehr schwierige» Lage
Der Wirtschaftswissenschaftler war lange Jahre Direktor des Instituts für Industrie- und Marktstudien an Moskaus renommierter Higher School of Economis (HSE). Seit Januar ist er Visiting Scholar am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. In einem langen Gespräch mit dem «Spiegel» äussert sich Jakowlew zur aktuellen wirtschaftlichen Situation in seinem Heimatland. Die Wirtschaftslage sei «sehr schwierig».
Viele Geschäftsleute seien verzweifelt. «Eines wird in unseren Gesprächen mit Firmenvertretern immer wieder deutlich: Diese Leute hätten den Krieg nicht begonnen. Das ist auch ein Problem in der westlichen Wahrnehmung: Viele Leute meinen dort, Russland und das Putin-Regime seien monolithisch, stabil, und es könne noch zehn Jahre so weiter existieren.» Dies sei ein «Trugschluss», so der prominente Ökonom.
Laut Jakowlew unterstützen die meisten Geschäftsleute den politischen Kurs nicht, haben allerdings auch keinen Einfluss darauf. Der Geschäftswelt bleibe «nichts anderes übrig, als zu tun, was sie schon immer getan hat: irgendwie zu überleben. Davon profitiert die russische Wirtschaft natürlich. Man muss aber verstehen, dass das mit Rückhalt für Putin nichts zu tun hat.»
«Keine Rückkehr mehr zur Normalität»
Die russische Wirtschaft sei äusserst anpassungsfähig. Russische Firmen seien «es gewohnt, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen». Lieferausfälle infolge Sanktionen könnten aber nicht über Importe aus Asien aufgefangen werden. Unterbrechungen der Lieferketten dauern länger als zunächst von vielen gehofft. «Firmen verstehen erst jetzt langsam, dass es keine Rückkehr mehr gibt zur Normalität.»
Jakowlew ziehe aus seinen Gesprächen «den Schluss, dass die meisten Geschäftsleute sehr genau wissen, wer der Verantwortliche für ihre Probleme ist» – und dass sich Putin womöglich bald vor seinen eigenen Leuten in Acht nehmen sollte.
Die Propaganda zeichne zwar ein Bild der grossen Unterstützung für den Kreml-Herrscher. «Ich glaube aber nicht, dass es viel mehr als 25 bis 30 Prozent sind», sagt Jakowlew. Diese Gruppe sei etwa so gross wie die Gruppe der Kriegsgegner. Wenn sich die wirtschaftliche Lage weiter «verschlechtert, werden diese Leute reagieren».
Sanktionen treffen kritisch denkende Bürger
Der Grossteil der verhängten Sanktionen treffe die Bevölkerung – und dort in besonderem Ausmass kritisch denkende Bürger. Menschen, die zur städtischen Mittelschicht gehören, «waren bislang die Käufer westlicher Waren, die Nutzer von Visa- und Mastercard. Sie sind in andere Länder gereist, haben unabhängige Medien gelesen und insgesamt eher westliche Werte geteilt». Die Sanktionen würden damit jene stärker treffen, die dem herrschenden Kurs kritischer gegenüberstehen.
Jakowlew: «Heute gibt es in Russland keine Gewinner mehr, das wird zu Spannungen in der Elite führen. Um Putin herum trifft heute nur noch eine winzige Gruppe Entscheidungen. Dabei schaden sie den Interessen weiter Teile der Elite sehr. Das schürt ernsthafte Spannungen innerhalb dieser Elite. Diese werden wachsen in Abhängigkeit von der Dauer des Krieges und der Verschlechterung der Lage der Wirtschaft.»
Mit Putin an der Spitze sei es «aber sinnlos, auf Veränderungen zu hoffen. Der Präsident hat sich selbst alle Möglichkeiten für einen Rückzug abgeschnitten.» (kes)