Die Polen feiern einen Helden: Witold Pilecki (1901–1948) hatte sich im Zweiten Weltkrieg freiwillig verhaften und ins Konzentrationslager von Auschwitz einsperren lassen, von wo aus er den Widerstand organisierte und die Welt über die Gräueltaten der Nazis informierte. Dennoch wurde er später zum Tode verurteilt.
Am Donnerstag wäre Pilecki 120 Jahre alt geworden. Die Kolleginnen und Kollegen von Onet, der zu Ringier Axel Springer Polska gehörenden Nachrichten-Plattform, haben über den polnischen Nationalhelden eine umfassende Reportage mit neuster Technologie produziert, die auch auf Deutsch übersetzt worden ist.
Die Geschichte von Pilecki ist packend. Der Pole hatte mit dem Offizier Jan Wlodarkiewicz (1900–1942) die Untergrundbewegung «Geheime Polnische Armee» gegründet, als die Deutschen am 1. September 1939 Polen überfielen. Sie mussten zusehen, wie die Nazis vor allem die Juden und die polnischen Intellektuellen verfolgten und ins Lager steckten. Mit zehn Prozent hatte Polen den grössten jüdischen Bevölkerungsanteil weltweit.
Mit Nummer 4859 im KZ
Die beiden hatten eine gefährliche Idee: Pilecki sollte sich verhaften lassen, um sich so selber ins Lager von Auschwitz einzuschleusen, da den Widerstand zu organisieren und Nachrichten über die Verbrechen der Deutschen zu verbreiten.
Am 19. September 1940 ging er bei einer Razzia der Deutschen freiwillig auf die Strasse, wo er mit rund 2000 Zivilisten festgenommen wurde. Nach zwei Tagen Folter wurden die Überlebenden ins KZ Auschwitz geschickt. Pilecki, der sich Tomasz Serafinski nannte, wurde die Nummer 4859 in den Unterarm tätowiert.
Was er im KZ sah, liess ihn erschaudern. In seinem Bericht schrieb er über seine ersten Eindrücke:
«Der Anfang wurde damit gemacht, dass ein gestreifter Mann mit einem Knüppel in der Hand fragte: ‹Was bist du von zivil?› Die Antwort Priester, Richter oder Anwalt hatte zu diesem Zeitpunkt Prügel und Tod zur Folge. Vor mir in der Fünferreihe stand ein Kamerad, der auf die Frage antwortete: ‹Richter.› Eine fatale Antwort. Einen Augenblick später lag er am Boden und wurde getreten und geschlagen. Eins war also klar: Man würde sich darauf konzentrieren, die polnische Intelligenz zu eliminieren.»
Widerstand im Lager
Pilecki baute den Widerstand im Lager mit System auf. Er gründete Fünfergruppen, um die Widerstandskämpfer selber zu schützen. Falls jemand aufflog, konnte er höchstens vier andere verraten. Er liess Häftlinge, die entlassen werden sollten oder fliehen wollten, Berichte über die Grausamkeiten auswendig lernen, um keine Quellen zu hinterlassen.
Schon im Dezember 1940 gelang es Pilecki, die ersten Meldungen über die Gräueltaten in Auschwitz hinauszuschmuggeln. Aber erst für den 18. März 1941 ist es verbürgt, dass die britische Regierung sie zu sehen bekam.
Pilecki lebte fast drei Jahre lang im Lager. Seine Enttäuschung wuchs, als er bemerkte, dass die Chance auf Hilfe von aussen immer kleiner wurde. Im April 1943 flohen er und ein Kollege mit wichtigen Dokumenten aus Auschwitz.
1944 nahm er am Warschauer Aufstand teil und schrieb in einem Versteck einen Bericht über alles, was er in Auschwitz erlebt hatte. Dieser Bericht wurde später ein wichtiges Beweismittel in den Prozessen gegen Lagerkommandant Rudolf Höss (1901–1947) und andere SS-Leute.
Von den Befreiern verurteilt
Dass Pilecki unter den sowjetischen Befreiern keine Freunde finden würde, war ihm schon immer klar, schliesslich hatte er im sowjetisch-polnischen Krieg (1919–1921) gegen die Sowjets gekämpft. Viel schlimmer war es für ihn, dass sich mit dem späteren Premierminister Josef Cyrankiewicz (1911–1989) ein Kollege des Widerstands in Auschwitz gegen ihn stellen würde.
1947 wurde Pilecki wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, weil er Beweise für die Gräueltaten der Sowjets sammelte. 1948 starb er durch einen Schuss in den Hinterkopf. Das Todesurteil stützte sich wesentlich auf Aussagen von Cyrankiewicz.
Kommunisten verschwiegen Heldentag
Öffentlich bekannt wurde Pileckis Heldentat erst 2011, als ein britischer Journalist über seinen Widerstand im Zweiten Weltkrieg eine Arbeit verfasste. Pileckis Vorgehen war im kommunistischen Polen totgeschwiegen worden.
Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des kommunistischen Regimes in Polen wurde Pilecki rehabilitiert. Mehr noch: Er wurde 2013 sogar postum zum Oberst befördert und gilt heute als Nationalheld.
Alle sollen Pilecki kennenlernen
Onet-Chefredaktor Bartosz Weglarczyk (50) sagt über die Reportage zu Blick: «Dies ist das allererste digitale Projekt dieser Grössenordnung über Witold Pilecki. Es ist eine Kombination aus der Arbeit von Journalisten, Videoreportern, Fotografen und dem IT-Team mit den neusten technologischen Lösungen.»
Es ermögliche, die Geschichte auf eine völlig neue Art zu erleben. Weglarczyk: «Unser Ziel ist es, die Geschichte von Witold Pilecki zu verbreiten, vor allem unter jungen Menschen in Polen und im Ausland.»
Lesen und hören Sie die ausführliche Geschichte von Witold Pilecki. Hier gehts zur Onet-Reportage über den polnischen Helden in Deutsch.