«Jeder Mensch in der Ukraine bangt um sein Leben»
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Olena Selenska am WEF:«Jeder Mensch in der Ukraine bangt um sein Leben»

Olena Selenska mahnt am WEF
«Neutralität darf es jetzt nicht geben»

Die ukrainische First Lady sparte bei ihrem Auftritt in Davos nicht mit Kritik. Die Schweiz aber bleibt beim Thema Waffen hart. Trotzdem: Die erste Schweiz-Reise der Präsidenten-Gattin zeigte Wirkung.
Publiziert: 17.01.2023 um 21:25 Uhr
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Aktualisiert: 17.01.2023 um 22:06 Uhr
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Olena Selenska (44) reiste Anfang Woche für einen Auftritt am WEF in die Schweiz.
Foto: keystone-sda.ch
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

In die frisch verschneiten Schweizer Alpen reisen ausländische Besucher eigentlich fast immer zur Erholung. Nicht so Olena Selenska (44), seit 2003 verheiratet mit Wolodimir Selenski (44), seit 2019 First Lady der Ukraine, seit dem 24. Februar 2022 auf einer Mission. Die Mission ist an sich simpel, aber doch schwierig: Die Welt darf die Ukraine nicht vergessen. Der Westen darf nicht kriegsmüde werden.

Mit genau dieser Botschaft reiste die frühere Drehbuchautorin und studierte Architektin am Dienstag ans World Economic Forum (WEF) in Davos GR. «Bitte stoppt eure Hilfe nicht! Wenn ihr das macht, dann war alles vergebens. Ihr könnt doch nicht aufhören, das Feuer zu bekämpfen, wenn das halbe Haus noch in Flammen steht», sagte Selenska am späten Nachmittag im «House of Ukraine», einem der vielen Davoser Lokale, die während des WEF für guten Profit an Firmen – oder in diesem Fall an die ukrainische Stiftung Victor Pinchuk Foundation – vermietet werden.

Selenska-Begleiter bugsieren SRF aus dem Raum

Olena Selenska sind die fast elf Monate, die sie im Krieg verbracht hat, anzusehen. Ihre sehnigen Hände streichen das blondierte Haar immer wieder aus ihrem Gesicht, das aussieht, als möchte es am liebsten jeden Moment in Tränen ausbrechen. Doch Selenska reisst sich zusammen, wie sie es seit dem brutalen Überfall auf ihre Heimat bei unzähligen Auftritten im In- und Ausland schon getan hat.

Symbolisch: Für ihren Besuch im «House of Ukraine» trägt Selenska eine traditionelle weisse Bluse, darauf schwarze Blumenmuster. Die Hoffnung für die Ukraine ist nicht gestorben. Aber eine farbige Zukunft malen, das will Selenska noch nicht.

Wie durchgetaktet ihre Mission am WEF ist, macht der grosse Tross von beschäftigt dreinblickenden Assistentinnen und grimmigen Davoser Bodyguards deutlich, die die 44-Jährige hermetisch abriegeln. Ein Zweierteam vom SRF wird im «House of Ukraine» sogar unsanft aus dem Raum gedrängt, als es sich der First Lady mit seiner Kamera näherte.

Die mahnenden Worte der First Lady an die Welt-Elite

Angefangen hatte Selenskas Tag in Davos – damals noch im seriösen braunen Business-Anzug mit goldener Ukraine-Brosche – mit einem Auftritt auf der grössten Bühne des WEF. «Schaut euch diese Halle an: Jede und jeder hier hat viel Einfluss, das vereint euch», sagte sie. «Aber nicht alle nutzen diesen Einfluss auch, um etwas zu bewirken.»

In ihrer Ansprache warnte die Ehefrau des derzeit wohl berühmtesten Mannes der Welt erneut vor den katastrophalen Folgen, die ein Wegschauen der Welt bedeuten würde. Sie sprach von einem «zweiten Tschernobyl», vom Krieg, der bald über die Grenzen der Ukraine hinaus wüten könnte, und von den Hunderttausenden ukrainischen Familien, deren Söhne, Töchter, Väter, Mütter, Brüder und Schwestern schon getötet worden sind. «Wenn ihr auf den Krieg in meiner Heimat schaut, dann schaut ihn durch die Augen derjenigen an, deren Leben der Krieg ins totale Chaos gestürzt hat», sagte Selenska.

Ignazio Cassis spricht mit Olena Selenska
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Treffen am WEF:Ignazio Cassis spricht mit Olena Selenska

Selenska kritisiert die Schweiz – mindestens indirekt

Bei einem bilateralen Treffen mit dem Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis (61) am Mittag betonte Selenska erneut, wie wichtig die humanitäre Hilfe der Schweiz sei. Auf dieser Ebene werde die Schweiz weiterhin «alles geben», betonte Cassis danach und erzählte auf Nachfrage von Blick, er habe Frau Selenska gebeten, ihrem Mann «viel Kraft und Ausdauer» zu wünschen. Über Waffen aber hätten sie nicht gesprochen. Die Schweiz halte diesbezüglich an ihrer Neutralität fest.

Genau das aber könne sich angesichts der russischen Verbrechen in der Ukraine niemand mehr leisten, sagte Selenska am Nachmittag vor rund hundert Zuschauern, die sich im «House of Ukraine» wortwörtlich auf die Füsse traten, um der First Lady möglichst nahe zu kommen. «Neutralität darf es jetzt nicht geben. Nicht, wenn Kinder getötet werden.»

Im Fall der Ukraine gebe es eine richtige Seite und eine falsche. «Die richtige gewinnt bisher. Aber wir dürfen uns keine Pause gönnen», mahnte Selenska. «Und jeder muss selber seine Wahl treffen, ob er auf der richtigen Seite steht oder nicht.» Eine unverblümte Nachricht der blumig gekleideten Besucherin aus Kiew.

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