Seit dem 28. Januar überfliegt ein weisser Ballon so gross wie drei Linienbusse erst Kanada, dann den Norden der USA in Richtung Osten. Er ist mit blossem Auge sichtbar, wird von Smartphones gefilmt, im Netz gepostet. Bald steht fest: Es handelt sich um einen chinesischen Aufklärungsballon, ausgerüstet mit Kommunikationstechnologie.
US-Präsident Joe Biden (80) verspricht den Abschuss. Der erfolgt drei Tage später über dem offenen Meer. Ein Kampfjet trifft den Ballon mit einer Rakete des Typs AIM-9 Sidewinder. Jetzt wird ermittelt, in welcher Mission der Ballon unterwegs war.
Eiszeit zwischen den Grossmächten
Der Vorfall kommt zur Unzeit. «Die Beziehungen zwischen den USA und China sind schlecht, sind angespannt. Es ist völlig klar, dass die USA realisieren, dass sie die langsam untergehende Grossmacht sind. China ist sich völlig sicher, dass es die aufsteigende Nation ist. Das ist auch das erklärte Ziel», sagt Marc Winter, Professor für chinesische Geschichte an der Universität Zürich, zu Blick.
Zwischen den Grossmächten herrscht Eiszeit. Den von Donald Trump (76) 2018 erklärten Handelskrieg mit China führt Nachfolger Joe Biden (80) mit Härte weiter. Der US-Präsident treibt die Einfuhrzölle in die Höhe, verbietet beispielsweise den Verkauf von Halbleitern nach China. In Europa tobt der Ukraine-Krieg. China zeigt sich solidarisch mit Russland, kauft Gas und Öl, nimmt an gemeinsamen Militärmanövern teil. Ein Treffen von Präsident Xi Jinping (69) mit Wladimir Putin (70) steht an. Gleichzeitig droht China offen, sich den Inselstaat Taiwan einzuverleiben. Ein Konflikt, in den die USA hineingezogen würden.
Eine gefährliche Eskalation, wirtschaftlich wie politisch. Beim G20-Gipfel auf Bali Mitte November 2022 kam es zu einer hoffnungsvollen Annäherung zwischen den Grossmächten. Joe Biden und Xi Jingping (69) einigten sich auf eine ganze Reihe von bilateralen Treffen, um die Beziehungen wieder zu stabilisieren. An diesem Wochenende sollte zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder ein Repräsentant der US-Regierung nach Peking reisen. Da taucht der Spionageballon auf – und die neuen Bemühungen drohen zu platzen.
Sorge, China könnte für Russland spionieren
Anthony Blinken (60) sagte kurzfristig seine Reise nach China ab, bei der der US-Aussenminister auch Xi Jingping treffen sollte. Die Spionage sei inakzeptabel, würde gegen die Souveränität der USA und gegen Völkerrecht verstossen, so der US-Aussenminister. Aber auch in der EU wird Kritik an China laut. «Die neuen offensichtlichen Spionageaktionen Chinas gegenüber den USA geben Grund zur Sorge», sagt Manfred Weber (50), Chef der Europäischen Volkspartei (EVP). Der Westen stehe in einem gewaltigen Systemwettbewerb mit China und müsse seine Kräfte bündeln. Befürchtungen, dass die vom Ballon gesammelten Informationen sogar an Russland gehen könnten, hat CDU-Politiker Michael Brand (49). Und der Militärexperte Maximilian Terhalle von der London School of Economics vermutet gegenüber «Bild», dass der Spionageballon gezielt auf die Luftwaffenbasis in Montana gelenkt wurde.
Chinesischer Spionageballon abgeschossen
China beeilt sich, den Vorfall zu relativieren. Es täte der Regierung leid, dass ein Wetterballon vom Weg abgetrieben worden und in US-Luftraum eingedrungen sei, hiess in der ersten Stellungnahme. Es sei halt höhere Gewalt. Dann wird der Ton schärfer. Mit dem Abschuss hätten die Amerikaner überreagiert. Peking äusserte «starke Unzufriedenheit» über den Einsatz von Gewalt durch die USA gegen ein «ziviles, unbemanntes Luftschiff». Man behalte sich das Recht auf «notwendige Reaktionen» vor.
An eine Eskalation glaubt Alexander Görlach (46) trotzdem nicht. Der China-Experte sieht eine andere Entwicklung des Konflikts: «Man kann wahrnehmen, was Xi in den letzten Monaten verfolgt hat. Xi will die USA isolieren, aus Europa und aus dem pazifischen Raum zurückzudrängen», sagt er zu Blick. Aber: Das Gegenteil sei durch seine Politik passiert. «Aus Sicht der freien Welt und aus der Sicht der USA ist überhaupt keine Eskalation nötig, da Xi durch die Politik, die er betreibt, sein Land weiter und weiter isoliert.»