«Niemand ist sicher, solange wir nicht alle sicher sind»
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UNO-Botschafterin Baeriswyl:«Niemand ist sicher, solange wir nicht alle sicher sind»

Neue Uno-Botschafterin der Schweiz
«Niemand ist sicher, solange wir nicht alle sicher sind»

Pascale Baeriswyl arbeitet seit Juni am UNO-Hauptsitz in New York. Im Interview spricht sie erstmals über die Kandidatur der Schweiz für den UNO-Sicherheitsrat sowie über die Rolle der Schweiz in der Welt.
Publiziert: 03.10.2020 um 23:50 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2020 um 12:01 Uhr
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Seit Juni ist Pascale Baeriswyl die neue Leiterin der ständigen Mission der Schweiz bei der Uno.
Foto: EDA
Interview: Valentin Rubin

Seit Juni sind Sie Chefin der Ständigen Mission der Schweiz bei der Uno in New York – eine welt­offene Frau in Trumps USA. Wie ist das für Sie?
Pascale Baeriswyl: Die Risse in den USA sind komplexer und älter als eine Person oder eine Regierung. Solche Entwicklungen beobachten wir weltweit. Es ist wich­tiger denn je, dass sich Gesellschaften fair und in­klusiv entwickeln und wir die Nachhaltigkeitsagenda von 2015 umsetzen.

Was heisst das für die Schweiz?
Unser politisches System ist ein grosses Privileg. Weltweit lässt die Kompromiss­bereitschaft nach. Der Trend macht auch vor der Schweiz nicht halt. Wir dürfen uns unsere Konsenspolitik nicht verspielen.

Sie traten Ihr Amt mitten in der Pandemie an. Ein Kaltstart?
New York City hat unter der Pandemie enorm gelitten, menschlich und wirtschaftlich. Die Sicherheitslage verschlechtert sich. Die grösste Herausforderung besteht darin, dass niemand zu Schaden kommt und wir ­ uns gegenüber der Stadt soli­darisch zeigen.

Wofür werden Sie sich in der Uno einsetzen?
Für die aussenpolitische Strategie des Bundes: die Förderung von Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Digitalisierung. Seit Juli bin ich zudem Vizeprä­sidentin des Wirtschafts- und Sozialrats der Uno, wo ich das Segment für humanitäre Fragen leiten werde. Am meisten werden mich aber die sozioökonomischen Folgen der Pandemie und der Klimawandel beschäftigen.

Die Schweiz plant eine Kandidatur für den Uno-Sicherheitsrat. Was hätten wir davon?
Länder unserer Grösse übernehmen etwa alle 20 Jahre im Sicherheitsrat Verantwortung. Als global stark vernetzte Wirtschaftsmacht sind wir auf eine ­regelbasierte Ordnung angewiesen. Für diese können wir uns im Rat bei einflussreichen Staaten einsetzen. Die Kandidatur stärkt zudem die Glaubwürdigkeit des internationalen Genf.

Kann sich die neutrale Schweiz dieses Mandat erlauben?
Regierung und Parlament haben sich intensiv mit der Kandidatur auseinander­gesetzt, bevor sie 2011 eingereicht wurde. Die Neutralitätsfrage ist sorg­fältig geprüft worden. Im März 2020 stimmte der Nationalrat letztmals darüber ab: Die ­Zustimmung war höher als bei früheren Vorstössen. ­Viele neutrale Staaten ­nahmen bereits erfolgreich im Sicherheitsrat Einsitz: Schweden, Österreich, nächstes Jahr ist Irland mit dabei. Neutralität kann auch ein Vorteil sein. Wir werden als «honest broker» (ehrlicher Makler; Red.) gesehen. Dass wir uns allenfalls auch einmal enthalten müssen, respektiert man.

Der frühere Uno-Botschafter Jenö Staehelin sagte kürzlich, die Schweiz könnte dem Druck der Grossmächte im Rat nicht standhalten.
In der Aussenpolitik ist es normal, dass es Zielkonflikte geben kann und man ­unter Druck gesetzt wird. Es ist Teil unseres Berufes, diesem standzuhalten. Wir haben als Land klare Interessen und Werte. Es ist wichtig, dass wir eine ko­härente Position vertreten. Da wir keine Militärmacht sind, sind wir in Fragen ­militärischer Konflikte weniger exponiert als andere. Es gibt Bereiche, da werden wir eher als Konkurrenz wahrgenommen.

Chef Schweizer Mission

Pascale Baeriswyl (52) war von 2016 bis 2019 Staatssekretärin im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Im August 2019 ernannte sie der Bundesrat zur neuen Chefin der Schweizer Mission bei der Uno in New York. Ihr Amt angetreten hat Baeriswyl, welche sechs Sprachen spricht, diesen Sommer. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Pascale Baeriswyl (52) war von 2016 bis 2019 Staatssekretärin im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Im August 2019 ernannte sie der Bundesrat zur neuen Chefin der Schweizer Mission bei der Uno in New York. Ihr Amt angetreten hat Baeriswyl, welche sechs Sprachen spricht, diesen Sommer. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Etwa in Wirtschafts­fragen.
Ja. So standen wir beim Bankgeheimnis sehr unter Druck. Aber im Bereich Frieden und Sicherheit ­haben wir meist langjährige, auf das Völkerrecht gestützte ­Positionen. Das ist im Sicherheitsrat von Vorteil.

Dennoch: Der Sicherheitsrat wird kritisiert. Die Veto­mächte blockieren sich oft gegenseitig.
Die Polarisierung zwischen den einflussreichsten Staaten ist im Moment bedenklich hoch, die Kompromissbereitschaft gering. Der Rat fasst dennoch rund 60 verbindliche Beschlüsse im Jahr. Meist einstimmig.

Haben kleine Staaten wie die Schweiz überhaupt irgendeinen Einfluss in dieser Elefantenrunde?
Es gab schon einige kleine Staaten, die grosse Erfolge erzielten. Luxemburg konnte humanitäre Zugänge in Syrien ermöglichen. Das hat Hunderttausenden das Leben gerettet! Österreich, Kuwait oder etwa Schweden konnten ebenfalls wichtige Erfolge verbuchen. Das zeigt: Auch kleine Staaten tragen zu Fortschritten bei!

Was ist die grösste Herausforderung für die Uno?
Wir befinden uns in einer globalen Vertrauenskrise, die alles in Frage stellt. Die Uno muss die Plattform sein, um das Vertrauen ­wiederherzustellen. Es ist existenziell, dass wir uns gemeinsam auf Lösungen verständigen.

Viele Mitglieder setzen aber auf Isolationismus ...
Keine der aktuellen Herausforderungen – Pandemie, Aufrüstung oder Klimawandel – lässt sich allein lösen. Internationale Zusammenarbeit ist schlicht alternativlos. Und die Uno ist die einzige universelle Organisation der Welt.

Dann sind Reformen umso wichtiger.
Ja, die Schweiz unterstützt mit Verve die Reformen des Generalsekretärs. Allerdings wissen wir nicht, wo wir in einem Jahr stehen werden. Es braucht Demut, denn es ist heute schwer zu sagen, für welche Welt von morgen die Uno ge­rüstet sein muss. Während der aktuellen Präsidentenwoche haben sich fast alle Staatsoberhäupter zum Multilateralismus bekannt.

Waren es nicht eher Lippenbekenntnisse?
Es gibt wohl kaum einen Staat, der denkt, die Probleme alleine lösen zu können. Was die Regierungen unter Multilateralismus verstehen und wie sie die Zusammenarbeit in der Praxis umsetzen, ist eine ganz andere Frage. Die Pandemie zeigt uns aber: Niemand ist sicher, solange wir nicht alle sicher sind.

In der Pandemie läuft vieles virtuell oder auf Sparflamme. Wie stellt man da neue Weichen?
Der Generalsekretär hat schnell reagiert, einen weltweiten Waffenstillstand ausgerufen, einen Fonds zur ­direkten Hilfe gegründet und die Gelder sofort verteilt. Die Uno hat rasch digital umgestellt. Die General­debatte der 75. Generalversammlung hat immerhin unter grosser virtueller Beteiligung von Staats- und Regierungschefs stattgefunden. Aber klar: Diplomatie lebt von den Korridoren, von menschlichen Beziehungen, Kompromissen und Gegenleistungen. Wir können nur hoffen, dass das bald wieder möglich ist.

Zweifeln Sie manchmal daran, dass sich Ihre Arbeit lohnt?
Momentan überlappen sich viele Krisen. Das bringt ­Unsicherheit und teils Zweifel mit sich. Aber wir müssen mit dieser Welt-­Unordnung leben lernen. Ich habe ein tolles Team und gemeinsam versuchen wir, die Chance zu packen, unsere Welt nachhaltiger zu gestalten. Es ist wichtig, dass wir uns für unsere ­Ziele einsetzen. Heute mehr denn je.

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