Vor gut einer Woche liess die «Süddeutsche Zeitung» die Bombe platzen. Der deutsche Politiker Hubert Aiwanger (52) habe in seiner Schulzeit in den 80er-Jahren ein antisemitisches Flugblatt verfasst und verteilt, so der Vorwurf. Exemplare des fragwürdigen Pamphlets sollen in seinem Schulranzen gefunden worden sein. Aiwanger verteidigt sich. Vor der Flugblatt-Affäre waren die Umfragewerte des stellvertretenden Ministerpräsidenten des Bundeslandes Bayern stark gestiegen. Blick erklärt die Hintergründe des Falls, über den ganz Deutschland gerade diskutiert.
Wer ist Hubert Aiwanger?
Hubert Aiwanger ist Mitglied der Freien Wähler. Im März 2010 wurde er zum Parteichef gewählt. Seit November 2018 ist er der Wirtschaftsminister des Bundeslandes Bayern und stellvertretender bayerischer Ministerpräsident. Der Sohn eines Landwirts wuchs in der kleinen Gemeinde Rahstorf auf. Er ist dem konservativen Lager zuzuordnen.
Was steht im Flugblatt?
Laut der «SZ» war das verfasste und ausgelegte Flugblatt offenbar die Reaktion auf einen Schülerwettbewerb zur deutschen Geschichte. Das Pamphlet ruft zur Teilnahme an einem angeblichen Bundeswettbewerb auf: «Wer ist der grösste Vaterlandsverräter?» Bewerber sollten sich «im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch» melden, hiess es darin.
Als erster Preis wurde «Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz» angepriesen. Weiter zu gewinnen sei «Ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab».
Nach Informationen der Zeitung war Aiwanger damals in der elften Klasse des Gymnasiums, zwei Jahre später legte er dort sein Abitur ab. Augenzeugen, die anonym bleiben wollten, berichteten der Zeitung, er sei damals als Urheber des Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden. Demnach traf sich deswegen der Disziplinarausschuss der Schule. Aiwanger habe seine Urheberschaft nicht bestritten und sei «bestraft worden».
Welche weiteren Vorwürfe werden erhoben?
Mittlerweile hat sich die Affäre ausgeweitet. Immer mehr frühere Mitschüler packen aus. So soll Aiwanger in der Schulzeit «sehr oft» den Hitlergruss gezeigt haben, erzählt Ex-Mitschüler Mario Bauer, andere Klassenkameraden Aiwangers widersprechen dieser Darstellung allerdings. Auf einem in den sozialen Medien vielfach geteilten Foto ist zu sehen, dass Aiwanger in seiner Jugend einen Hitler-ähnlichen Schnurrbart trug.
Am Mittwoch veröffentlichte die «SZ» weitere Vorwürfe. Demnach soll Aiwanger Hitlers «Mein Kampf» in der Schultasche bei sich gehabt haben. Das behauptet eine frühere Mitschülerin Aiwangers, die das Buch selbst in der Hand gehalten haben will. Auf den neuen Vorwurf angesprochen antwortete Aiwanger gegenüber «Bild»: «Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll.»
Wie reagiert Aiwanger auf die Flugblatt-Affäre?
Aiwanger liess gegenüber der «SZ» über einen Sprecher mitteilen, er habe «das Pamphlet nicht produziert». Er werde «gegen diese Schmutzkampagne im Falle einer Veröffentlichung juristische Schritte inklusive Schadenersatzforderungen» ergreifen.
Am Mittwoch bezeichnete sich Aiwanger als «Demokrat» und wies Vorwürfe des Rechtsextremismus zurück. Für «die letzten Jahrzehnte» könne er diesbezüglich «alle Hände ins Feuer legen», sagte er in Donauwörth vor Journalisten. Er sei «kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund».
Welche Rolle spielen Aiwangers Bruder und die Schreibmaschine?
Aiwangers älterer Bruder Helmut (53) übernahm öffentlich die Verantwortung für das Schreiben. Das Dokument bezeichnete er als «stark überspitzte Form der Satire» und eine «Jugendsünde». Er schäme sich dafür und bitte seinen Bruder um Verzeihung «für die damals verursachten Schwierigkeiten, die auch noch nach 35 Jahren nachwirken».
Er habe mit der antisemitischen Schmähschrift «offen linksradikale Lehrer» provozieren wollen. «Bild» beschreibt Helmut Aiwanger heute so: «Bayrisch bodenständig. Er ist nicht links, aber auch nicht rechtsradikal oder antisemitisch.» Er betreibt ein Waffengeschäft.
Ein Gutachter soll der «SZ» zudem bestätigt haben, dass das Pamphlet und Aiwangers Facharbeit am Gymnasium aus dem Jahr 1990 auf Schreibmaschinen des gleichen Typs geschrieben wurden. Dem Gutachten zufolge weise das grossgeschriebene W in beiden Dokumenten an genau der gleichen Stelle eine Unterbrechung auf. Auch der Grossbuchstabe G ist auffällig. Er ist laut Gutachten auf dem Flugblatt «geringfügig nach links versetzt», etwa bei den Wörtern «Genickschuss» und «Gestapokeller». In der Facharbeit ist das G ebenfalls leicht nach links versetzt, so beim Wort «Gemeinschaft». Aiwangers Bruder könnte Zugriff auf die Schreibmaschine gehabt haben.
Versucht ein ehemaliger Lehrer, Aiwangers Karriere zu zerstören?
Aussagen, die ein ehemaliger Klassenkamerad Aiwangers gegenüber «Focus» machte, legen nahe, dass ein ehemaliger Gymnasiallehrer (70) des heutigen Lokalpolitikers daran arbeitete, den Freien-Wähler-Chef zu stürzen. «Mein ehemaliger Deutschlehrer hat mich vor acht Wochen aufgesucht und mich gebeten, ihm einen Dreizeiler aufzuschreiben, in dem ich bestätige, dass Hubert Aiwanger der Verfasser des antisemitischen Flugblattes ist», berichtet Roman Serlitzky (52), ein ehemaliger Mitschüler von Aiwanger. Diese Aufforderung habe die Lehrkraft mit den Worten kommentiert: «Es wird Zeit, dass wir diese braune Socke jetzt stürzen.» Der Aiwanger-Feind soll Verbindungen zu mehreren SPD-Ortsverbänden haben. So habe er auf offiziellen SPD-Veranstaltungen Vorträge gehalten und bei SPD-Arbeitskreisen mitgewirkt.
Wie fallen die politischen Reaktionen aus?
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (56) sagte der «SZ» am Samstag als Reaktion auf den Bericht, es stünden «schlimme Vorwürfe im Raum». Das Flugblatt sei «menschenverachtend, geradezu eklig». Er forderte Aiwanger auf, die Vorwürfe aufzuklären und vollständig auszuräumen und übergab ihm einen 25 Fragen umfassenden Fragenkatalog.
Gleichzeitig kam allerdings eine weitere bizarrere Reaktion des CSU-Politikers ans Licht. So soll Söder laut dem Deutschlandfunk-Reporter Michael Watzke bei einer Rede mit «Adolf-Hitler-gleicher Stimme und Gestik» gesagt haben: «Ich werde in München mal auf den Tisch hauen.» Söder nennt dabei den Namen Aiwanger nicht, spricht aber von einem Politiker, der vor Ort grosse Reden schwinge, in München aber ganz zahm sei. In einem Audio-Mitschnitt wirkt Söders Stimme verzerrt, ein wenig härter und tiefer im Ton. Im Anschluss an den «Auf-den-Tisch-Hauen»-Satz spricht er normal weiter. CSU-Kreise wiesen den Vorwurf der Hitler-Imitation strikt zurück.
Bundeskanzler Olaf Scholz (65) verlangt von Aiwanger eine sofortige Aufklärung. Der gesamtdeutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (53) forderte Söder auf, mit Blick auf eine weitere Zusammenarbeit mit Aiwanger Stellung zu beziehen. Die SPD forderte einen sofortigen Rücktritt, die Freien Wähler stellten sich dagegen hinter ihren Parteichef und kritisierten die «Kampagne aus Schmutzeleien» gegen Aiwanger.