Irgendwo dort hinter den Birken und Tannen sind sie, hinter dem Stacheldrahtgeflecht, das Adern trennt und Fleisch zerschneidet. Aber schützt es auch vor Wagner-Söldnern? Vor Atomwaffen? Vor einer feindlichen Armee?
Tut es nicht, das Geflecht. Margilis Silius (29) weiss das. Sein stahlblauer Blick auf die nicht enden wollende Zaunanlage in diesem Schattenwald verrät es. «Regenbögen und Schmetterlinge», so sei der Arbeitsalltag hier an der belarussischen Grenze lange gewesen. Jetzt sind er und seine 3800 Grenzwachkollegen in Litauen in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden.
Nicht nur wegen der Nato, die keine 30 Autominuten westlich von hier tagte, sondern auch wegen Alexander Lukaschenko (68), der hinter dem Stacheldrahtgeflecht ein wahrhaftiges Terrorregime installiert hat. Wegen der Nuklearwaffen, die Moskau nach Belarus verlegt hat. Und wegen Jewgeni Prigoschins (62) 25'000 Schlächtern, die sich in Belarus von ihren Schandtaten in der Ukraine erholen.
Die Schweigepflicht der Wächter
«Die Stimmung hat sich verändert», sagt Silius. Die belarussischen Grenzer drüben würden nicht mehr auf sein «Hallo, wie gehts?» reagieren. «Sie müssen schweigen, per Vorschrift.» Mit dem Feind wird nicht gesprochen. Die alte Telefonleitung zu den Berufskollegen drüben unter den Birken gibt es zwar noch. «Aber es hat lange nicht mehr geklingelt.» Angst? Nein. Er sei entspannt, mental bereit, was auch immer komme.
Falls die Wagner-Truppen oder die belarussische Armee tatsächlich eine Provokation an der Grenze des Nato-Landes Litauen wagten, würden Silius und seine Kollegen automatisch zur Kampfeinheit umfunktioniert. So will es das litauische Gesetz. Die Körperkamera und seine Kleinkaliberpistole müsste er dann gegen schwereres Geschütz eintauschen. Was dann aus Fan (6) wird, der belgischen Schäferhündin an seiner Seite, weiss der kahle Grenzer nicht.
An Silius' Arbeitsplatz endet die Nato, hier beginnt das Regime der östlichen Regenten. Links wir, der Westen, die Demokratie. Rechts die anderen, die Tyrannei. Dazwischen: rasiermesserklingenscharfes Geflecht, alle 80 Meter eine Kamera und überall unterirdische Druckmessanlagen, die jeden Hasen erfassen, der nichts ahnend dem geopolitischen Graben entlanghoppelt.
Lukaschenko, der Putin-Nachfolger?
Es sei nicht mehr dasselbe Belarus wie noch vor wenigen Jahren, sagte der litauische Präsident Gitanas Nauseda (59) bei seiner Eröffnungsrede am Nato-Gipfel. «Es ist eine Provinz Russlands. Die russischen Streitkräfte können sich frei auf dem ganzen Territorium bewegen.»
Und wer weiss, was aus diesem Belarus noch wird? «Lukaschenko hat Ambitionen, dereinst selber im Kreml an den Machthebeln zu sitzen», erklärte John Everard, einst britischer Botschafter in Minsk, jüngst in einem Podcast von «Monocle24». Wladimir Putin (70) wankt, Lukaschenko nicht. Und mit der brutalen Privatarmee seines «sehr guten Freundes» Prigoschin: Wer weiss, auf welche Ideen der Herrscherhüne noch kommt?
Statt Herrschern huschen derzeit aber nur gelegentlich ein paar Hirsche über die 13 Bildschirme im Posten der litauischen Grenzwache am Rande des Weilers Lavariskes. Die beiden Beamten, die im kargen Kommandoraum Wache schieben, können zwischen den Livebildern von 312 Kameras hin- und herschalten. In der Luft liegt Kaffeeduft. Koffein ist nötig, um während der 13-Stunden-Schichten vor der flimmernden Bildschirmleere nicht den Fokus zu verlieren.
Noch immer rollt der Russenzug
Am offiziellen Grenzübergang, keine fünf Kilometer weiter, stehen ein paar Lastwagen Schlange. Ab und an braust ein Auto mit belarussischem Nummernschild über die einsame Strasse auf die Zollschranke zu. Visabeschränkungen für belarussische Staatsbürger gibt es in Litauen noch keine – für die Russen schon. Die dürfen während des Halts im Bahnhof Vilnius nicht einmal mehr den Transit-Zug von Moskau hinüber in die russische Exklave Kaliningrad verlassen.
Unweit des Bahnhofs liegt das schmucke Office von Rustamas Liubajevas (57), Chef des litauischen Grenzschutzes und Zierfischliebhaber. Manchmal wünschte er sich, es wäre alles so gemütlich wie bei den Welsen in seinem Büro-Aquarium. Aber mit diesen aggressiven Nachbarn links und rechts gibts grad keine Gemütlichkeit. «Wir müssen bereit sein, falls die Wagner-Söldner oder sonstige Truppen plötzlich an unseren Grenzen stehen.»
Die bedrohlichen «Vatniks» im Hinterland
Litauen hat an seinen Grenzen jüngst massiv aufgerüstet, technologisch und personell. Die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst ist so intensiv wie nie zuvor. «Und die neuen Verteidigungspläne der Nato helfen uns natürlich auch», betont Liubajevas.
4000 Seiten lang ist das Geheimdokument, das die Nato-Versammlung diese Woche in Vilnius abgesegnet hat und das bis ins Detail regelt, wie die Nato auf einen Angriff reagieren würde. Klar ist: Noch in diesem Jahr wird jeder Mitgliedstaat einen Abschnitt der Nato-Aussengrenze zugeteilt bekommen, den er bewachen muss.
Woher seine neuen Grenzerkollegen kommen, weiss Margilis Silius noch nicht. Ein Problem aber werden auch sie nicht lösen können: das Gerede der «Vatniks», der Putin-Versteher. «In Vilnius findest du die kaum», sagt Silius auf dem Rückweg von der grünen Grenze zum Kommandoposten. Im Hinterland und in den digitalen Sphären aber tuschle manch einer über die Russen und ihren Präsidenten, den man doch auch verstehen müsse.
Silius schüttelt besorgt den kahlen Kopf. Kein Stacheldraht schützt vor diesen Vatniks, kein Bewegungsmelder stoppt sie. «Wir alle müssen ein bisschen Wächter werden.» Immer – und überall.